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Ingelheim in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges 1933 bis 1945


Autor: Hartmut Geißler


Die Geschichte Ingelheims in den 12 Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft – ein nach Jahren noch kürzerer Zeitraum als der der Weimarer Republik – unterscheidet sich nicht wesentlich von der Geschichte anderer deutscher Orte zu jener Zeit, und sie ist auch mittlerweile weitgehend erforscht, jedenfalls was die Stadt ohne die 2019 beigetretenen Orte Heidesheim und Wackernheim betrifft, für die das noch geleistet werden muss.

Im Jahre 2011 veröffentlichte eine Projektgruppe unter Leitung von Prof. Michael Kissener von der Mainzer Universität eine umfangreiche Untersuchung, die den Titel bekam Freudige Gefolgschaft und bedingungslose Einordnung…? Hans-Georg Meyer und Caroline Klausing gaben das Werk im Auftrag des Deutsch-Israelischen Freundeskreises und der Stadt Ingelheim heraus. Darin wurden insbesondere die bisher noch nicht oder nicht ausreichend erforschten Aspekte aus Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Verfolgung und Widerstand, Ende und Neuanfang und aus Ingelheimer Lebenswegen (biografische Darstellungen) untersucht und die Ergebnisse in insgesamt 27 Aufsätzen publiziert, deren Inhalt hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann.

Hinzu kam 2015 noch eine Spezialuntersuchung von Professor Kissener, die er mit Unterstützung von Boehringer Ingelheim fertigstellen konnte: Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Die Lektüre beider Bücher wird ausdrücklich empfohlen.

Im Jahre 2020 konnte Christian Müller aus Heidesheim sein Geschichtsstudium an der Johannes Giutenberg-Universität erfolgreich mit einer Master-Arbeit abschließen, in der er das Novemberpogrom 1938 in Rheinhessen, darunter auch in Ingelheim, untersuchte. Er konnte durch ein umfangreiches vergleichendes Quellenstudium auch für die Ingelheimer Ereignisse neue Fakten finden und darstellen. Ein Exemplar seiner Arbeit hat er dem Hist. Verein überlassen. Es ist in der Bibliotheca Carolina vorhanden.

Folgendes lässt sich zusammenfassend feststellen:

1. Als wichtige Gründe für den wachsenden Anklang der NSDAP auch in Rheinhessen und Ingelheim führt Klausing an:

- die wirtschaftliche schwierige Situation, die auch in Ingelheim zu mehr Arbeitslosen, aber weniger Steuereinnahmen führte, so dass die hoch verschuldeten Ingelheimer Gemeinden ihre Wohlfahrtsausgaben und die Gehälter der Gemeinde-Beschäftigten mehrfach kürzen mussten;

- die lange Rheinland-Besetzung durch die Franzosen und die beiden Separatistenwellen, die zur Stärkung des Nationalismus beigetragen hätten;

- Im Nieder-Ingelheimer Stahlhelm, einem Verein der ehemaligen Frontsoldaten, der hier 1930 gegründet wurde, organisierten sich wichtige spätere NSDAP-Mitglieder wie der spätere NSDAP-Bürgermeister Franz Bambach. NSDAP-Gruppen wurden 1928 oder 1929 in beiden Ingelheim gegründet. Kißener weist allerdings auch auf ideologische Differenzen des Ingelheimer Stahlhelms zu Hitlers Bewegung hin (S. 249).

2. Auch in Ingelheim errangen die Nationalsozialisten bei der letzten Reichstagswahl mit konkurrierenden Parteien am 5. März 1933 die relative Mehrheit, die aber mit ungefähr 38% (37,96 in NI und 38,04 in OI) deutlich unter den NSDAP-Ergebnissen im Reich (43,9%) und in Rheinhessen (42,96%) lagen; im überwiegend katholischen Frei-Weinheim erzielten die Nazis sogar nur 33,9% und lagen damit nur an zweiter Stelle hinter den Stimmen für das Zentrum mit 44,5%; stärker gewählt wurden die Nationalsozialisten im ländlichen Großwinternheim (46,53%); Ingelheim war also zwar auch vom allgemeinen Zeitgeist in Deutschland erfasst, aber eine Hochburg des Nationalsozialismus kann man es nicht nennen.

3. Die führenden Nationalsozialisten waren nur zu etwa einem Drittel gebürtige Ingelheimer, während die anderen zugezogen waren (Klausing S. 127).

4. Nach der Wahl 1933 rissen die Nazis auch in den Ingelheimer Orten alle politische Macht an sich, setzten die bisherigen Kommunalpolitiker ab, schalteten die Gemeindevertretungen gleich und formten sie bis zur Bedeutungslosigkeit um. Sie schalteten auch das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, auch das Vereinsleben, gleich und entließen und verfolgten politische Gegner bis zur Haft in KZs und bis zu ihrer Ermordung.

 

5. Auch hier traten nach der Märzwahl viele wirtschaftlich Tätigen in die NSDAP ein, entweder weil sie dazu gedrängt wurden oder weil sie bei einem Fernbleiben Nachteile für ihre weitere berufliche Existenz befürchteten, z. B. Julius Liebrecht, der Schwiegersohn von Albert Boehringer, zum 1. Mai 1933, Ernst und Albert Boehringer 1936 oder 1938, Hermann Berndes(s.u.) gleichfalls zum 1. Mai 1933. Die Nähe bzw. vorsichtige Distanzierung der Familie Boehringer zum nationalsozialistischen Gedankengut konnte Kißener 2015 aufgrund aussagekräftigen Quellenmaterials ausführlich darstellen.

6. Die Produktionsbedingungen der Ingelheimer Industriebetriebe mussten sich der NS-Wirtschaftsplanung und nach Kriegsbeginn noch stärker den Erfordernissen der Kriegsführung unterordnen.

7. Auch die Ingelheimer Landwirtschaft gestalteten die Nationalsozialisten nach ihren Vorstellungen um, insbesondere durch das Reichserbhofgesetz vom 29.09.1933 und die Einrichtung des alles reglementierenden Reichsnährstandes vom 13.09.1933.

8. Auch in bzw. aus Ingelheim ...

- wurden die Juden, die seit dem 19. Jahrhundert sehr gut in das Leben Ingelheims integriert und geachtet waren, zuerst diskriminiert, dann aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verdrängt, finanziell ausgeplündert und enteignet, ins Exil oder in den Freitod getrieben, bis schließlich die letzten 17 hier Verbliebenen am 20.09.1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden. Flora Roth wurde erst im folgenden Jahr nach Theresienstadt verschleppt und kam zurück nach Ingelheim. Auch der jüdische Metzger Heinrich Strauss, der 1937 sein Geschäft in Nieder-Ingelheim schließen musste und nach Mainz zog, kehrte aus Theresienstadt nach Ingelheim zurück, wo er bis 1956 lebte, als er zu seinem Sohn Salomon in die USA zog. Er sagte 1955 zugunsten von Berndes aus (Geißler, S. 26). Die Synagoge (in Ober-Ingelheim) wurde 1938 zerstört. Damit wurde das beachtliche jüdische Gemeindeleben, das es seit Jahrhunderten im Ingelheimer Grund gegeben hatte, ausgelöscht.

- wurden Sinti deportiert und ermordet;

- wurden Behinderte verschleppt, zwangssterilisiert und insgeheim ermordet.

9. Auch in Ingelheim wurden viele Kriegsgefangene, Fremdarbeiter und Zwangsarbeiter beschäftigt. Ausführlich zu den Zwangsarbeitern bei Boehringer Kißener, S. 141-170.

10. Auch hier erlitten viele Familien Verluste durch die Gefallenen des Krieges und die in Gefangenschaft Verstorbenen, gab es Opfer des Bombenkrieges, wenn auch nicht viele.

11. Offener Widerstand gegen die Nazidiktatur fand in Ingelheim bis auf eine Ausnahme (Berndes) nicht statt. Verdeckter Widerstand oder solcher von außen wird in Meyer/Klausing, S. 485-518 und im Kapitel VII (Ingelheimer Lebenswege), behandelt.


Drei Ereignisse sind von nachhaltiger Bedeutung für Ingelheim gewesen:

1. Durch einen Erlass des ReichsstatthaltersJakob Sprenger in Darmstadt wurden die beiden Ingelheim (und Frei-Weinheim) im Jahre 1938 sozusagen von oben zur "Stadt Ingelheim am Rhein" vereinigt. Rechtskräftig wurde die Vereinigung, um die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder erfolglos gestritten worden war, zum 1. April 1939. Diese Vereinigung wurde durch den frei gewählten Nachkriegsstadtrat am 15. Januar 1947 demokratisch bestätigt.

2. Durch das mutige Eingreifen des Volkssturmkommandanten Hermann Berndes(zusammen mit der Mehrheit der Ingelheimer Volkssturmführer) wurde eine von der Wehrmacht befohlene militärische Verteidigung Ingelheims gegen die vorrückenden US-Truppen im März 1945 nicht durchgeführt, so dass der Stadt wahrscheinlich größere Kampfhandlungen und Zerstörungen erspart blieben. Hermann Berndes wurde für diese Tat der Vernunft von fanatischen Nazis hingerichtet. Die Ingelheimer Bausubstanz blieb also weitestgehend erhalten, was die Voraussetzung dafür war, dass einige Professoren und Studenten der 1946 von den Franzosen neu gegründeten Mainzer Universität, die im stark zerstörten Mainz selbst keine Wohnung fanden, nach Ingelheim zogen und dem Ingelheimer Nachkriegsleben ganz erhebliche kulturelle Impulse gaben. Außerdem konnte die Ingelheimer Industrie, so die Firma Boehringer, aufgrund der nur geringen Zerstörungen nach dem Kriege weiter produzieren und damit Arbeitsplätze in Ingelheim erhalten bzw. neue schaffen.

3. Seit der Nazizeit gibt es keine Synagoge und kein jüdisches Gemeindeleben mehr in Ingelheim.

 

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Gs, erstmals 08.03.08; Stand: 25.03.21