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NS-Medizinverbrechen an Ingelheimern


Autor: Hartmut Geißler
nach Renate Rosenau in Meyer/Klausing, S. 383 ff.


1. Einleitung

Auch an Ingelheimern verübten Juristen, Verwaltungsbeamte, Ärzte und Pfleger in der Zeit der NS-Herrschaft medizinische Verbrechen, und zwar an denjenigen Mitmenschen, denen sie in ihrer rassistischen Verblendung kein Recht auf Fortpflanzung oder kein Lebensrecht mehr zubilligten. Und dies nicht nur unter dem Schutz (und Druck) des Krieges, sondern sogleich von 1933 an.

Renate Rosenau stellt in ihrem erschütternden Beitrag zuerst die seit etwa 1900 vorhandenen Einrichtungen für Kranke in Rheinhessen vor, danach folgt eine Untersuchung der ideellen Wegbereiter der "Euthanasie" und des nationalsozialistischen Rassenvokabulars.

Anschließend erläutert sie die Einführung "rassehygienischer" Maßnahmen ab 1933 sowie deren gesetzliche Grundlagen.

Es folgen sodann einige Ausführungen zum "erbgesundheitlichen" Erfassungssystem, dem Schicksal der "Rheinlandbastarde" sowie zur vorbereitenden Patientenverlegung ab 1938.

Zum Schluss beschreibt sie die Tötungsaktion "Aktion T 4" und ihre Auswirkungen auf Teile der Ingelheimer Kranken und abschließend die sogenannte dezentrale Phase der Euthanasie und die Kindereuthanasie.

An dieser Stelle kann nur mit Nachdruck auf die eigene Lektüre dieses Aufsatzes verwiesen werden, denn im Folgenden sollen lediglich die zusammengefassten Resultate aufgeführt werden.

Zu den ideellen Wegbereitern des NS-Rassenwahns gehörte auch Dr. Heinrich Claß, Rechtsanwalt aus Mainz und seit 1908 Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, der sich intensiv um die Verbreitung von Gobineaus Rassenlehre in Rheinhessen bemühte. Claß war der Hauptorganisator beim Bau des Ingelheimer Bismarckturmes.


2. Die Umsetzung der Ziele der "Rassenhygiene" durch die Nationalsozialisten

Schon in den 20er Jahren gab es Veröffentlichungen zur "Erblichkeitslehre" und "Rassenhygiene", die sich zum Ziel machten, der "Entartung" des deutschen Volkes durch die ungehinderte Fortpflanzung von "Erbuntüchtigen" Einhalt zu gebieten, nämlich durch Sterilisation, aber auch durch Tötung ("Gnadentod" und "Euthanasie").

a) Unfruchtbarmachung

Auf der Rechtsgrundlage des am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurden - soweit bekannt - acht Frauen und fünf Männer aus Ingelheim unfruchtbar gemacht. Da jedoch die diesbezüglichen Akten des Kreises Bingen nicht mehr vorhanden sind, kann nicht nachgeprüft werden, ob auch da wie im Landkreis Alzey Personen in einer Größenordnung von 800 betroffen waren, was wahrscheinlich ist. Lediglich das Schicksal von zwei Betroffenen kann Frau Rosenau etwas detaillierter beschreiben: Julius Otto S. und Katharina H.

Im Übrigen bewahrte die Zwangssterilisierung nicht vor einer nachfolgenden Tötung, denn von den dreizehn aus Ingelheim namentlich bekannten Personen haben nur drei Männer und vier Frauen die Nazizeit überlebt, während vier in Hadamar/Hessen und zwei auf dem Eichberg (bei Eltville, gegenüber von Ingelheim) getötet wurden.

Im Laufe der Zeit wurde das System der "erbbiologischen Erfassung" aller Bürger immer mehr perfektioniert. In der Rheinhessen-Fachklinik Alzey sind, wie Frau Rosenau ermittelt hat, noch 624 "Sippentafeln" erhalten mit 17.000 verwandten "Sippschaftsangehörigen". Wie viele Ingelheimer auf diese Weise erbbiologisch erfasst wurden, ist unbekannt. Auch die "Erbkartei" des Gesundheitsamtes Bingen ist nicht erhalten.

Über eine Zwangssterilisation von Mischlingskindern (Vater dunkelhäutiger französischer Besatzungssoldat nach dem Ersten Weltkrieg, Mutter Deutsche), die im Mainzer Dialekt "Utschebebbes" genannt wurden, ist aus Ingelheim nichts bekannt. Es gab allem Anschein nach hier keine solchen Kinder wie in Mainz.


b) Die Tötung "lebensunwerten Lebens" - die "Euthanasie"

Schon vor dem Beginn des Krieges 1939 waren weitergehende Maßnahmen angelaufen, die die Tötung von Geisteskranken und anderen Behinderten ermöglichen sollten. Solche Insassen verschiedener, auch kirchlicher Pflegekliniken wurden in größeren, ausschließlich staatlichen Kliniken konzentriert, wo viele bereits durch mangelnde Pflege, mangelndes Essen und unbehandelte Krankheiten starben.

Datiert auf den 1. September 1939 wurde mit dem Kriegsbeginn ein streng geheimer Erlass Hitlers verfasst, den man den "Gnadentod-Erlass" nannte, der anstelle eines nicht offen verabschiedeten Gesetz als geheime juristische Grundlage für reichsweite Tötungsaktionen diente, die sog. "T4-Aktion", die von 1939 bis zum 24. August 1941 durchgeführt wurden. Sie betraf Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, die als unheilbar krank galten, nur mit mechanischen Arbeiten zu beschäftigen waren und sich schon fünf Jahre in einer Anstalt befanden, auch für kriminelle Geisteskranke und Ausländer.

Danach mussten die zur Tötung vorgesehenen Patienten mit Meldebögen von den Kliniken an die T4-Zentrale (RAG) gemeldet werden, sie wurden daraufhin geheim in verschiedene Tötungsanstalten transportiert und dort umgebracht. Ihre Angehörigen erhielten eine standardisierte Mitteilung mit einer angeblichen Todesursache. Patienten aus Rheinhessen wurden in der Regel in die hessische "Heil- und Pflegeanstalt" von Hadamar gebracht, dort vergast und verbrannt.

Damit nicht auffiel, dass Patienten einer Region am selben Tag "plötzlich und unerwartet" gestorben waren, tauschten die sechs Tötungsanstalten im Reich die Akten untereinander aus und fälschten zudem Todesursache und streuten so die verlogenen Daten.

Dieser Tötungsaktion T4 fielen 12 namentlich bekannte Ingelheimer zum Opfer (Rosenau, S. 410/11).

Ab August 1941, als die Geheimaktion u. a. wegen Protesten aus der katholischen Kirche abrupt gestoppt wurde, waren reichsweit von den ins Auge gefassten 100.000 zu Tötenden erst 40.000 umgebracht worden. Deshalb wurde dieses Euthanasieprogramm anschließend trotzdem dezentralisiert fortgesetzt, auch bei Kindern. Die für "lebensunwert" Gehaltenen mussten nun in verschiedenen Anstalten durch unzureichende Nahrung, aber auch gezielt durch Medikamente sterben.

Insgesamt stellt Rosenau namentlich weitere 16 Ingelheimer zusammen (S. 414/15), die zwischen 1941 und 1945 in "Heil- und Pflegeanstalten" umkamen, darunter auch die ukrainische Zwangsarbeiterin Anna Baranjuk, geb. 1894, die auf dem Eichberg starb.


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Gs, erstmals: 20.01.12; Stand: 06.12.20