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"Palatium" und das Verschwinden dieses Begriffes im 9.-10. Jahrhundert

 

Autor: Hartmut Geißler

Auf der Basis von
Hinkmar De ordine palatii (von 882, Edition 1980)
Diefenbach (1921),
Gauert (1965),
Brühl (1968),
Zotz, Palatium in Staab (1990),
McKitterick (2007),
Fałkowski, Wojcech: Wahrnehmung des königlichen palatium im westfränkischen Reich im 9. und 10. Jahrhundert. Bulletin der Polnischen Historischen Mission, 2009 (2022 online)
Ehlers (2007 und 2020),
Aachen Bd. 2, 2013
Fried (2014),

und nach der Durchsicht aller merowingischen Urkunden sowie der Urkunden von Arnolf bis Otto III in den DD der dMGH
sowie nach der Durchsicht aller Schriftquellen zur Ingelheimer Pfalzgeschichte bis zur Stauferzeit durch den Autor

Zur weiteren Begriffsgeschichte bis heute siehe "Pfalz Begriffsgeschichte"

 

1. Zur Forschungsgeschichte

Im Sprachgebrauch der deutschen Pfalzenforschung wird der Begriff "Pfalz" oftmals auch für alle Wirtschaftshöfe des Wanderkönigtums benutzt. Denn "Pfalz" genauer zu definieren, fällt schwer.

Adolf Gauert schloss 1965 seinen Forschungsüberblick mit der Feststellung ab, dass "der in königlicher Nutzung stehende Wirtschaftshof" ... ein "unentbehrliches Grundelement im Gefüge der Pfalzen" gewesen sei. "Pfalz" also etwas anderes, zu dem aber der Wirtschaftshof gehört.

Carlrichard Brühl versuchte 1968, "Pfalz" in seiner Untersuchung zu den wirtschaftlichen Grundlagen des (Reise-) Königtums im Frankenreich definitorisch gegenüber den einfachen Königshöfen abzugrenzen:

"Damit stellt sich nun die Frage nach einer Definition des Begriffs „Pfalz“. Aus der Terminologie der Urkunden und Annalen der Zeit läßt sie sich mit Sicherheit nicht herauspräparieren: willkürlich bezeichnen die Quellen einen Ort abwechselnd als villa, curtis, palatium, seltener auch als fiscus, civitas, castrum u. a. m. oder aber - und das kommt gar nicht so selten vor - sie lassen jede ergänzende Qualifikation weg und beschränken sich ausschließlich auf die Nennung des Ortsnamens. Danach bestimmen zu wollen, was eine Pfalz ist, wäre reine Willkür. Mit Recht wies Heimpel darauf hin, daß in den Quellen häufig nach dem Prinzip des „pars pro toto“ oder „totum pro parte“ verfahren wird."

Er empfiehlt daher einen engeren und einen weiteren Pfalzbegriff:

"Der engere bezeichnet das eigentliche Wohngebäude [und offenbar nur das! Gs] des Königs, der weitere den gesamten Siedlungskomplex, also einschließlich des Wirtschaftshofes, der Kapelle, der Befestigung usw. Nur in diesem weiteren Sinne möchte Heimpel, und wir pflichten ihm darin bei, von „Pfalzen“ sprechen, während er für die einzelnen Elemente der Pfalz vorschlägt, die lateinischen Termini (palatium, curtis, capella, castrum) beizubehalten. Natürlich ist auch damit keine Definition gegeben. [...] Ohne Zweifel waren die Königshallen der Höfe einschließlich der Nebengebäude, ja wohl nicht einmal die großen Pfalzen der „Kernlandschaften“ in der Lage, das gesamte Gefolge des Königs aufzunehmen, das, wie wir gesehen haben, auf über tausend Mann geschätzt werden muß. Rübel hat hier auf die in den Quellen mehrfach zu beobachtende Unterscheidung zwischen palatium und heribergum aufmerksam gemacht und im palatium zu Recht den eigentlichen Königspalast, im heribergum die Unterkunft für das weitere Gefolge oder das Heer erblickt. Doch nicht überall werden feste Gebäude für das Gefolge vorhanden gewesen sein, das häufig in Zelten bei dem Königshof oder der Pfalz biwakiert.“ Er möchte also den Pfalzbegriff im engeren Sinne nur auf die Wohngebäude, also sozusagen den „Palast“ der Könige beschränken.

Zusammenfassend bekannte er: "Man wird in diesem Buch vergeblich nach einer klaren Definition des Begriffes „Pfalz“ suchen. Es gibt sie nicht, und alle bisherigen Versuche - wir möchten meinen: auch alle künftigen - führten und führen zu keinem voll befriedigenden Ergebnis." (S. 770)

Zum Raumbedarf für Regierungszwecke schrieb er allerdings nichts. Auch bezog er ebenso wie die anderen Autoren die Änderung in der Wahl der Bezeichnungen im zeitlichen Verlauf nicht ein. Deshalb kann man letztlich auch mit seiner Unterscheidung der Ingelheimer Situation nicht gerecht werden, denn zu dem von Einhard wahrscheinlich (!) gemeinten Gebäudeensemble (die "Kaiserpfalz") gehörten ja mindestens drei Großbauten mit unterschiedlicher Funktion, zu denen noch nicht einmal das oder die Wohngebäude der Königsfamilie gehören muss/müssen.

Rudolf Schieffer,1980 der Mitherausgeber und Übersetzer von Hinkmars De ordine palatii, stellte in Anmerkung 103 auf S. 57 fest:
"Die genaue Bedeutung des Begriffs palatium ist den Quellen der Zeit kaum zu entnehmen; bisweilen werden synonym auch Bezeichnungen wie villa, curtis, fiscus, castrum und civitas verwendet [...]" - Er betont aber völlig zu Recht: "Bei Hinkmars Sprachgebrauch ist weniger an den lokalen Pfalzenbegriff zu denken [...] als an die personale Bedeutung des Begriffs: Hof, Hofhaltung, Hofgericht, König und Hofleute."

Hinkmar kennt jedoch durchaus den Begriff für Regierungsgebäude, auch wenn er ihn nur ungern so verwendet, was sich aus seiner Erklärung eines Zitates aus der Schrift des von ihm benutzten Adalhard ergibt:
"praetoria" (im Sprachgebrauch Gregors), die man heutzutage Königshöfe ("regia") und häufiger Pfalzen ("palatia") nenne. (Cap. IV, S. 60)
 

Das Ingelheimer Schlichtungsprotokoll von 876 als Beispiel für drei unterschiedliche Bezeichnungen in einem einzigen Text (Gs)

Die drei verschiedenen Verwendungen von „palatium“ als Regierung, als Königsgut zur Ortsangabe und als "palatium" im Eschatokoll zeigt ein Ingelheimer Schlichtungsprotokoll vom 18. Mai 876, also zur Zeit des Bischofs Hinkmar, wo vor König Ludwig "dem Deutschen" und 26 Großen (2 Erzbischöfe, 3 Bischöfe, 15 Äbte, 6 Grafen) der Streit zwischen dem Erzbischof Liutbert von Mainz und dem Abt Sigihard von Fulda über die Zehnten in Thüringen zugunsten des Klosters geschlichtet wurde. 

Darin heißt es :

- zuerst "ad palacium res ex utrisque partibus perlata“ – die Angelegenheit wurde von beiden Parteien der Regierung, also einem Personenkreis, vorgelegt;
- dann versammelten sich die Berater in der Ingelheimer Pfalz, dem Königshof, apud cortem regiam lngilunheim - zur Lokalisierung wurde lieber Curtis verwendet als das vorher anders verstandene Wort palatium;
- und schließlich wurde die Sache verhandelt („acta“)in palatio Ingilunheim vocitato in der (Regierungs-) Pfalz, Ingelheim genannt, hier nun ganz offiziell-konservativ das herkömmliche „palatium“ synonym zu "curtis" gemeint (oder zum bloßen Ortsnamen).

Auch bei den Annalisten wird "palatium" sowohl im Sinne eines Gebäudekomplexes als auch im Sinne von "Hof" als Personengruppe verwendet. Hier ein Beispiel aus den Annalen von Fulda (aus dem Ende des 9. Jahrhunderts). Dort heißt es zum Aufstand von Ludwigs Söhnen im Jahr 830, dass sie nicht wollten, dass Bernhard (Ludwigs Neffe) genauso wie sie mit Teilen des Reiches ausgestattet würde: "Quem in palatio esse noluerunt" - den sie nicht im "Palast", d.h. in ihrem Kreise(also gleichberechtigt) haben wollten: Palast als personaler Hof.

Caspar Ehlers stellte 2007 in der Einleitung zum Tagungsbericht über die "Zentren herrschaftlicher Repräsentation im Hochmittelalter" lapidar fest: Es ist bekannt, dass nicht jeder Aufenthaltsort eines mittelalterlichen Königs als "Pfalz" bezeichnet werden darf." (Ehlers 2007, S. 9). Andererseits beantwortete er die selbst gestellte Frage, was eine "Königspfalz" (palatium regis oder ähnlich) von einem "Königshof" ("curia regis" oder ähnlich) unterscheide, so: "Man weiß es nicht genau." (Ehlers 2020, S. 33)

 

2. Verwendung von "palatium" in den Schriftquellen (Chroniken, Viten oder Urkunden) der (Ingelheimer) Pfalzgeschichte im Laufe der Zeit

In den wenigen erhaltenen echten Urkunden aus der Merowingerzeit wird palatium erstaunlicherweise sehr selten verwendet, in der Nr. 22 aus dem Jahr 584 mit der Ortsangabe "stirpiniaco (= Étrépagny) ... ad vet(us pa(latium)" (in Stirpiniacum, im alten Palast). In späteren Fälschungen, die die Merowingerzeit betreffen, wird das Wort hingegen sehr oft verwendet, wohl um die Echtheit zu bekräftigen. Gelegentlich wird palatium in Urkunden der Hausmeier-Arnulfinger benutzt, z.B. in einer Urkunde des Noch-Hausmeiers Pippin von 743 (Nr. 17), wo im Eschatokoll steht: "in civitate Mettis in palatio regio" - in Metz im Königspalast- eine eindeutige Ortsangabe.

In der Zeit seit Karl dem Großen wurde der Begriff in wachsender Häufigkeit mit vier verschiedenen Bedeutungen verwendet, unter Ludwig dem Frommen fast ausschließlich (zu 88%), für Aachen und Ingelheim immer:

- als Qualifizierung er Ortsangabe im Eschatokoll, der Schlussformel von Urkunden (Diplomen)
- vielfach aber auch für die Regierung als Personenkreis
- bisweilen schon im weiteren Sinn synonym für einen ganzen Königshof (villa und seltener curtis)
- und, was Ingelheim betrifft, bei Einhard das neu erbaute Ingelheimer Palatium Karls des Großen, das wohl aus Versmaßgründen auch von Ermoldus Nigellus mit "domus" gemeint war und von dem Poeta Saxo mit "Aula". Es war eine Pfalz im engeren Sinn, ein "Regierungsviertel" (sit venia verbo!), die heutige "Kaiserpfalz", möglicherweise eine Ingelheimer Besonderheit und deswegen von Einhard mit iuxta - neben -  besonders charakterisiert

In der späteren Karolingerzeit wurde "palatium" kaum mehr zur Qualifizierung eines Königsgut als Regierungsort verwendet, sondern in den drei anderen Bedeutungen, vor allem für die Regierung, und im Eschatokoll allmählich durch villa (curtis) bzw. überwiegend durch den bloßen Ortsnamen ersetzt:

- bei Arnolf (König 887-899) 6 Mal (=3,6%) von 166 (echten) Urkunden - also schon verschwindend selten
- bei Zwentibold (König 895-900) 7 Mal von 27 (echten) Urkunden
- bei Ludwig dem Kind (König 899-911) 5 Mal von 77 (echten) Urkunden

Diese allgemeine Tendenz, die nicht auf Ingelheim beschränkt war, sondern sich auch im Königreich Burgund und im Westfrankenreich beobachten lässt, setzte sich unter den sächsischen Königen im 10. Jahrhundert fort, bis hin zum völligen Verschwinden des mehrdeutigen Begriffes "palatium". Im Hochmittelalter bezeichnete man damit nur noch bewohnte Königs- oder Bischofspaläste in Italien, z. B. in Benevent, keine ländlichen "Pfalzen" mehr, wie sie in der Karolingerzeit bestanden.

- bei Konrad I. (König von 911-918) 2 Mal von 35 (echten) Urkunden
- bei Heinrich I. (König 919-936) 1 Mal von 41 (echten) Urkunden
- bei Otto I. (König 936-973) 27 Mal (6%) von 435 (echten) Urkunden
- bei Otto II. (König von 973-983) 13 Mal (4%) von 317 (echten) Urkunden
- bei Otto III. (König von 983-1002 sowie bei seiner Witwe Theophanu) 18 Mal (4,2%) von 428 (echten) Urkunden

Gerhard Streich erwähnte diese allgemeine Entwicklung, die im Ingelheimer Gebrauch ihre Entsprechung findet, schon in seinem Beitrag zur Speyerer Tagung von 1988  "Die Pfalz. Probleme einer Begriffsgeschichte" (1990) mit folgender Feststellung:

"Wir können also für die ottonische Zeit eine weitgehende Einschränkung der Verwendung des Palatium-Begriffs sowohl in der offiziellen Urkundensprache als auch bei der zeitgenössischen Chronistik feststellen."

Seine Vermutung, warum trotz dieser allgemeinen Tendenz bei Aachen das Wort "palatium" noch etwas häufiger wegen des Andenkens an Karl den Großen neben etwa gleichviel anderen Formulierungen auftritt, braucht man jedoch nicht zu übernehmen, denn der Ortsnamen "Aquae/Aquis" (= "Baden") musste von vielen anderen Orten wie z. B. Aix-en-Provence im frankphonen Bereich unterschieden werden, und dazu verwendete man die Hinzufügung von "Grani" (also das "Baden des Granus") oder "palatii" (das "Baden der Pfalz").


3. Folgerungen für die Verwendung des Begriffes "Pfalz" in Ingelheim

1. Die örtlichen Verhältnisse der Ingelheimer Pfalz haben eine Besonderheit: Wie Einhard bemerkte (und nur er allein), wurde das neue Palatium Karls nicht wie üblich im Zentrum, bei der Kirche eines Königshofes gebaut, sondern daneben ("iuxta"), in fast 500 m Entfernung. Das war wohl ungewöhnlich, obwohl unser Wissen über die Lage der Regierungsgebäude in anderen Königsgütern, z. B. in Aachen, äußerst gering ist.

Unter der Ingelheimer "Pfalz" im weiteren Sinne sollte man aber sowohl die Gebäude und den gesamten Besitz des schon bestehenden Königshofes bei der Remigiuskirche verstehen als auch die neu gebauten Palastanlage. Wenn seit dem ausgehenden 10. Jh. königliche Urkunden nur noch in Ingelheim" oder (in) curti/villa ausgefertigt wurden, folgt daraus aber keineswegs ein Gebäudewechsel bei der Verhandlung der Gegenstände und ihrer Urkundenbearbeitung, denn auch die alte Eschatokoll-Formel mit "palatio" hat niemals explizit Karl neues Palatium gemeint, sie war älter. Es spricht freilich einiges dafür, dass solche Regierungsgeschäfte tatsächlich im neuen Palatium stattfanden (siehe Hinkmar). Das macht die Beantwortung der Frage oft unmöglich, welche Gebäude bei den Erwähnungen von Ingelheim als Handlungsort zu verschiedenen Zeiten konkret gemeint waren, z. B. wo die Absetzung Heinrichs IV. stattfand, vermutlich doch in der Aula regia, aber ausgesprochen wird es in keiner der vielen Quellen.

2. Aus Traditionsgründen wird man sicherlich weiterhin die großartige Palastanlage Ingelheims als "Pfalz" bezeichnen, die heute sogenannte "Kaiserpfalz", aber am besten mit dem Zusatz "im engeren Sinn". Wir sollten uns durch ihr eindrucksvolles Modell im Museum nicht zu einem Tunnelblick verleiten lassen und unter der Ingelheimer Pfalz nur diese Palastgebäude verstehen.

Aus Karls Regierungsviertel und nur aus ihm wurde jedoch im hohen Mittelalter (seit Heinrich IV./V. oder spätestens seit der Stauferzeit) ein Castrum, eine Ritterburg, die in deutschen Urkunden später der Ingelheimer "Saal" genannt wurde, während die Gebäude des Königshofes, die wir noch nicht gefunden haben, mit der Remigiuskirche, beides viel älter als das karolingische Palatium, nicht mehr im Zusammenhang mit dem Saal gedacht wurden. Deshalb hielt man jahrhundertelang nur den Saal, bzw. von Cohausen/Striegler/Clemen - noch mehr verengt - sogar nur dessen westliche Gebäude für die ganze und alleinige "Pfalz".

Sebastian Münster schrieb 1544 zur Ingelheimer Pfalz/Saal: "Dann do ligt ein schloß, daß man jetzunt den Ingelheimer sal nennt, das vor achthundert jaren des großen keyser Carles pallast gewesen ist..." Und dort suchten auch der Mitarbeiter Schöpflins, Andreas Lamey 1764, und Johann Wolfgang von Goethe 1814 Kaiser Karls "Palast" und waren ziemlich enttäuscht von dem, was man dort noch sehen konnte.

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Gs, erstmals: 20.06.14; Stand: 23.01.23