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21. Die Wehrmauern am Seufzer-Pfad


Autor und Fotos: Hartmut Geißler
(Neufassung 2020)


Die hohe (restaurierte) Wehrmauer mit Zinnen im Vordergrund gehört zur äußeren Wehranlage um die Burgkirche (siehe "Kirchenburg"). Sie macht hinter diesem sog. Nordturm eine Wendung nach Westen (auf dem Foto nicht sichtbar). Der Turm steht also an ihrer Nordecke. Nordturm und Malakoffturm waren die Ecktürme der Kirchenburg und zugleich die höchsten der ganzen Ortsbefestigung. Sie gehörten nicht zur Ringmauer um den Ort.

Diese äußere Kirchenburgmauer setzte sich hinter dem Turm nach Westen zum heutigen Haus Burggarten fort. Sie ist in einem sehr guten Erhaltungszustand. An ihrer Innenseite ist das evangelische Gemeindehaus angebaut, die frühere Schule. Beim Haus Burggarten schwenkt sie um nach Süden und verläuft hinter dem Eingangstor weiter an der Grabengasse entlang bis zum anderen Eckturm, dem sog.  Malakoffturm, an dem früher außen das südliche Ende der Ortsmauer ansetzte, heute aber die Turnhalle und ein Gebäude des Weingutes Gräff-Schmitt. Trotzdem ist ihr Verlauf vom Malakoffturm zum Uffhubtor noch gut bei Google Earth zu erkennen.

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An diesen Nordturm wurde offenbar später in einem kleinen Winkel die auf dem Foto weiter hinten sichtbare, niedrigere Ortsmauer (auch "Ringmauer" oder "Rentmauer" genannt) angebaut, über der die Baumkronen des Parks von Haus Burggarten hängen.
 

Der Turm dieses Bildes ist auch ein Vorlageturm, der aber ungewöhnlich lang nach vorne gebaut wurde. Dadurch konnte man aus dem Turm heraus den Graben und Begleitweg auf beiden Seiten gut "bestreichen" (beschießen), denn Mauer und Graben machen an dieser Stelle einen Knick nach Westen, wie man an der heutigen Grabenführung sehr gut erkennen kann. Er ist von innen begehbar und hat eine (neuzeitliche) Tür, die aber stets verschlossen ist. Auch ihn muss man sich eigentlich viel höher, aus dem Graben heraus aufragend, vorstellen.

Zwischen Burgkirche und Rinderbacher Tor ist die Ortsbefestigung am besten erhalten, wenn auch mehrfach umgebaut und erneuert. Der Grund für diese gute Erhaltung dürfte wie an der Burgunderstraße in den Besitzverhältnissen zu suchen sein: Hier lag seit der Karolingerzeit zuerst kirchlicher und nach der Reformation bis um 1800 adliger Grundbesitz, sodass die Mauer nicht durch kleinräumige, „bürgerliche“ Besiedlung sozusagen verbraucht oder abgerissen wurde. Bemerkenswert ist die Vielfalt der Schartenformen und der davor oder darauf gesetzten Türme.

Vor der Mauer verlief ein ursprünglich tiefer Graben, der auch als Flutgraben zur Ableitung des nördlichen Flutwassers vom Mainzer Berg diente. Unklar ist, was älter ist, der künstlich im Norden um den Ort geleitete Flutgraben oder die Mauer, oder ob beides zusammen gestaltet wurden. Das Wasser, das heute darin fließt, ist ein Teil der sog. Casinoquelle aus dem Park von Haus Burggarten, deren anderer Teil Solgas Drei-Figuren-Brunnen auf dem Marktplatz speist.

Das südliche Flutwasser vom Hesselweg herab wurde südlich am Uffhubtor vorbei und an der Wehrmauer der Burgunderstraße entlang zum Mühlgraben an der Selz geleitet.

Der Begleitweg des Grabens wird wohl erst seit dem 20. Jh. im Volksmund „Seufzerpfad“ genannt. Er wurde in den letzten Jahren zu einem idyllischen Spazierweg vom Festplatz zum Rinderbacher Tor gestaltet. In Ober-Ingelheim bietet man für den Namen "Seufzerpfad" zwei Erklärungen an: entweder vom Seufzen der Liebespaare, die durch diesen dunklen Pfad vom Festplatz nach Hause liefen, mit Pausen, versteht sich, oder vom Seufzen der Trauernden eines Trauerzuges von der Kirche zum Friedhof an der Rotweinstraße. Letzteres würde aber einen direkten Zugang von der Kirche zum Seufzerpfad voraussetzen, den es nicht gab oder gibt.


Zu den Wehrmauern Ober-Ingelheim allgemein


Gs, erstmals: 15.03.06; Stand: 09.03.21