Bestrafung der Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schickten

Autor: Hartmut Geißler
aus: Geißler, Volksschulgeschichte, BIG 56, S. 198 ff.

 

Besonderer Wert wurde bei der hessischen Schulaufsicht darauf gelegt, dass die Schüler den verpflichtenden Unterricht auch besuchten. Deshalb mussten von den Lehrern regelmäßig Listen über die Schulversäumnisse ihrer Schüler angefertigt werden und die Eltern der den Unterricht versäumenden Kinder wurden mit Strafgeldern bedroht.

Möglicherweise war es nämlich für arme Familien, z.B. für Landarbeiter, die häufig nur saisonale Verdienstmöglichkeiten hatten, mitunter ökonomisch sinnvollerer, durch die Arbeitskraft der schulschwänzenden Söhne und Töchter Geld zu verdienen, als eine Schulversäumnisstrafe zu vermeiden, deren Bezahlung man aber möglichst lange hinausschob.

Bei deren Zwangseinziehung scheint es auch hier und da zu Protesten gekommen zu sein, denn es ist ein Rundschreiben der Provinzial-Direction erhalten, das den Bürgermeistern in Rheinhessen ein Urteil des Großherzoglichen Oberappellations- und Cassationsgerichts am 15. Oktober 1832 zur Kenntnis gab, anlässlich von tumultuarischen Zuwiderhandlungen bei Exekutionen verschiedener Gemeindegeldschuldner zu Neubamberg, Kanton Wöllstein. Danach seien Gerichtsverfahren gegen die großherzogliche Verordnung von Strafgeldern wegen Unterrichtsversäumnissen nicht zulässig. Der Rechtsweg wurde also verweigert.

Von den eingetriebenen Versäumnisstrafgeldern sollten ursprünglich nur Schulbücher und Unterrichtsmittel für bedürftige Familien gekauft werden. Da aber reichlich Geld zusammen kam (!), wurde mit Erlass vom 15. Mai 1830 erlaubt, aus diesem Fonds auch Kleidungsstücke, z.B. Schuhe (siehe unten), für arme Kinder und Belohnungen anzuschaffen.

Im Folgenden wird ein Fall aus Nieder-Ingelheim dargestellt, allerdings 50 Jahre später, als man viel strenger dagegen vorging als noch in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts.

 

Am 8. März 1881 teilte das Großherzogliche Kreisamt in Bingen der Bürgermeisterei in Nieder-Ingelheim mit, dass Kaspar S. als Vater gemäß den gesetzlichen Bestimmungen seine uneinbringliche Schulversäumnisstrafe von 8 M 40 Pf durch eine achttägige Haftstrafe zu verbüßen habe und dass diesem mitgeteilt werden solle, dass er sich in dem Gefängnislokal zu Ober-Ingelheim zur Verbüßung der Strafe baldigst zu stellen habe. Das Gefängnis auch für Nieder-Ingelheimer befand sich damals also in Ober-Ingelheim.

Wie aus weiteren Unterlagen des Stadtarchivs hervorgeht, waren die Familienverhältnisse seines Sohnes, des Schülers Heinrich S., geb. am 19. Februar 1869, allerdings sehr schwierig. Seine Mutter Maria Josepha W. aus Sponsheim hatte ihrem Mann zehn Kinder geboren, bevor sie am 8. Mai 1874 im Alter von 39 Jahren starb. Fünf der zehn Kinder sind bis 1874 gleichfalls gestorben, drei davon im Kleinkindalter.

Der Vater Kaspar war als Tagelöhner und Alleinerziehender offenbar völlig überfordert. Zwei seiner jungen Töchter, Katharina (*1870) und Margaretha (*1871), wurden deshalb 1874 auf Antrag des Vaters zu Pflegeeltern gegeben, und zwar zu Kaspar Abstein, Landwirt in Nieder-Ingelheim, wohnhaft in der Untergasse, und zu dessen zweiter Frau Martha Elisabeth, geb. Zimmer, die selbst neun Kinder hatten und für ihre Pflegekinder Geld aus der Nieder-Ingelheimer Hospitalkasse bekamen.

Die Haftstrafe des Vaters, falls er sie nicht durch Bezahlen im letzten Moment vermieden hat, scheint nicht viel gebessert zu haben; der zwölfjährige Sohn Heinrich war wohl weiterhin sich selbst überlassen und verwahrloste.

Dies wurde in einer Anzeige des Polizeidieners Wilhelm S. (seines um sieben Jahre älteren Bruders?) aktenkundig. Der zeigte am 31. Juli 1881 Folgendes an:

Obengenannter hat sich im Monat Juli laufenden Jahres folgende Übertretung zu Schulden kommen lassen: Derselbe wurde als verwahrloster Junge, am 3ten Juli l. J. auf Kosten der Gemeinde, dem Rettungshause zu Jugenheim zur Erziehung übergeben; ist dortselbst seit dieser Zeit dreimal entlaufen, und hat sich innerhalb 4 Wochen, etwa 10 bis 12 Tage, vagabundierend herumgetrieben.

Heinrich war am 3. Juli in das „Rettungshaus“ in Jugenheim eingewiesen worden, eine Erziehungsanstalt der Rheinhessen-Diakonie, die von 1852 bis 1929 existierte und zuletzt unter der Schirmherrschaft der großherzoglichen Prinzen stand.

Er entwich auch von dort, was der dortige Vorstand am 10. September 1881 an den Nieder-Ingelheimer Bürgermeister meldete:

Wir zeigen Ihnen ganz ergebenst an, daß einer unserer Zöglinge Philipp Winternheimer aus Ober-Ingelheim bei dem Tüncher Herrn M. Esch in Ndr.-Ingelheim in der Lehre ist und fortbildungsschulpflichtig ist. Was den entlaufenen S. anlangt, ist der Bube nicht nur Schul-, sondern auch Arbeitsscheu; denn sein letztes Weglaufen geschah an einem Tage, da die Schule der Ernte wegen einige Tage ausfiel…

Wie aus mehreren ähnlichen Vorgängen in Ober-Ingelheim hervorgeht, konnten solche Geldstrafen noch kurz vor Haftantritt bezahlt werden. Hier ein Beispiel:
 


Quittung
Empfangen von Witwe Karl Saalwächter für die uneinbringliche und bereits zur Verbüßung umgewandelte Schulstrafe für ihren Sohn Karl aus dem Jahre 1884/85 mit einer Mark 20 Pfg.
Ober=Ingelheim, den 7. October 1885
Der Gemeindeeinnehmer Odernheimer

"Uneinbringlich" bedeutete, das die Witwe nichts hatte, was pfändbar gewesen wäre.

 

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Ges, erstmals: 13.02.17; Stand: 22.03.21