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Sebastian Münsters Bedeutung


Autor und Fotos: Hartmut Geißler
nach Burmeister (Katalog 1988)
und Bobzin

Rechts: Sebastian-Münster-Denkmal von Karlheinz Oswald, 1988, vor der Nieder-Ingelheimer Remigiuskirche, da wo das Spital vermutet wird, für das Sebastians Vater verantwortlich war. - Foto: Geißler

Karl Heinz Burmeister, der beste Kenner Sebastian Münsters, hat in einem Beitrag zur Begleitpublikation der großen Ausstellung anlässlich des 500. Geburtstags des größten Sohnes Ingelheims 1988 versucht, die Bedeutung Sebastian Münsters zusammenfassend zu beschreiben.

Auf Burmeisters grundlegenden Forschungsergebnisse stützt sich auch Hartmut Bobzin, Professor in Erlangen, in seinem Vortrag zum speziellen Thema "Sebastian Münster in Heidelberg und die Begründung der Semitistik".

Im Folgenden sollen die wichtigsten Urteile beider Fachleute kurz zusammengefasst und die Lektüre beider Aufsätze sehr empfohlen werden.

 

Burmeister rechnet Sebastian Münster ... "zweifellos nicht zu den führenden Geistesgrößen der Renaissance und des Humanismus in Deutschland, der einem Martin Luther, Philipp Melanchthon, Erasmus von Rotterdam, Theophrastus Bombastus Paracelsus oder Albrecht Dürer an die Seite zu stellen wäre.

Aber ebenso unzweifelhaft gehört Sebastian Münster zu den größten Söhnen seiner Vaterstadt Ingelheim, dessen Gelehrtentum von europäischer, ja über den Kontinent hinausreichender Bedeutung ist." (S. 52)

"Sebastian Münster weist als Gelehrter des Zeitalters des Humanismus und der Reformation eine Vielzahl von Eigenschaften auf, die wir mit dieser Epoche eng verbinden: einen „faustischen“ Forschungsdrang, eine Offenheit gegenüber neuen Ideen, eine kritische Haltung gegenüber der mittelalterlichen Tradition, insbesondere im kirchlichen Bereich, die Vorliebe zu den drei alten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch, die Friedensliebe und Ansätze zur Toleranz und Humanität, die alle Völker der Erde als Geschöpfe des einen Gottes sieht.

Durch solche Eigenschaften wird Münster für uns und besonders für seine Ingelheimer Mitbürger von heute zu einem Prototyp jener bewegten Zeit des Umbruchs beim Übergang des Mittelalters zur Neuzeit, in der wir heute noch leben.

Münster wird so zu einem Wegbereiter des modernen Denkens, nicht weil wir ihn etwa über die eingangs genannten Größen seiner Zeit stellen wollen, sondern weil er uns mit diesem modernen Denken, das ihn und seine Zeitgenossen auszeichnet, räumlich und örtlich besonders nahe steht, treffen wir doch auch heute noch in Ingelheim immer wieder auf seine Spuren. Münster kann daher aus der Ingelheimer Sicht zu einer Symbolfigur eines ganzen Zeitalters werden."

 

Münsters wissenschaftliche Bedeutung sieht Burmeister zusammenfassend darin, dass er einmal zu den Begründern der christlichen Hebraistik gehört, die er zu einem eigenständigen akademischen Fach und in Richtung einer sprachvergleichenden Semitistik weiterentwickelt habe, in die die Betrachtung des Aramäischen, des Äthiopischen und des Arabischen einbezogen wurde. Während er dabei ein "echter Wegbereiter der Toleranzidee" wurde, blieb er doch in der Alltagsbeurteilung der Juden "weitgehend in den judenfeindlichen Klischees seiner Zeit befangen".

Gerade die Achtung und Nutzung jüdischer Wissenschaft habe ihm Feinde eingebracht; nach seinem Tod habe man ihn sogar der Zauberei anklagen wollen, weil man bei ihm angeblich hebräische Zauberformeln gefunden habe. Auch unter seinem Nachfolger Johannes Buxtorf sei die Universität Basel ein Zentrum christlicher Hebraistik geblieben.

 


Zum anderen liege die eigentliche Bedeutung Münsters in seinem Hauptwerk, der Cosmographie, begründet, an der er fast drei Jahrzehnte gearbeitet habe und die eines der erfolgreichsten Bücher des 16. Jahrhunderts geworden sei. Freilich habe er sie "sozusagen als Hobby" neben seiner offiziellen Lehrtätigkeit für Hebraistik und Altes Testament betreiben müssen, wenn auch nicht mit weniger Eifer.

Beide Tätigkeitsfelder sieht Burmeister dadurch verbunden, dass auch die Geographie und Völkerkunde der Kosmographie zur Verherrlichung Gottes beitragen sollten. Wenn die Gestaltung der Cosmographie in Bebilderung und Inhalt stellenweise das Reißerische streift, führt dies Burmeister darauf zurück, dass Münster durchaus auch das Ziel einer populären Volksbildung anstrebte und außerdem auf die kaufmännischen Argumente seines Stiefsohnes und Mitherausgebers Heinrich Petri Rücksicht nehmen musste.

 

 

 

Neben seiner Tätigkeit als Hebraist und Geograph beherrschte Münster - typisch für einen damaligen Universalgelehrten - nicht nur die alten Sprachen (Hebräisch, Griechisch und Lateinisch), sondern auch Französisch - die erste französische Ausgabe der Cosmographie soll er 1552 kurz vor seinem Tode selbst bearbeitet haben.

Er war zudem Mathematiker und Astronom, baute astronomische Instrumente, schrieb deutsche Anleitungen zum Bau von Sonnenuhren, entwarf Wandkalender und übersetzte Schriften Martin Luthers.

Alles in allem sind über 70 Bücher von ihm bekannt.

 

 

 

 


Als Privatmenschen zeichnete ihn wohl eine "franziskanische Einfachheit und Bescheidenheit" aus, wie es Burmeister formuliert. Gleichwohl bekannte er sich durchaus zum Genuss eines guten Glases Wein.

Allgemein ist in den erhaltenen Veröffentlichungen und Briefen sehr wenig über sein Gefühlsleben zu entnehmen, er äußerst sich fast nur über seine Arbeitsbelastung, aber z.B. nie über seine Mutter, seine Frau oder seine Tochter.

 

Die Franziskaner ebneten ihm den Weg zu einer höheren Bildung, die ihm seine Eltern vielleicht nicht hätten bezahlen können. Nach seinem Beitritt zum Orden etwa zwischen 1505 und 1507 verbrachte er die nächsten zwei Jahrzehnte stets in der Mönchskutte an den Klosterschulen in Heidelberg, Löwen, Freiburg, Rufach, Pforzheim, Tübingen und Basel, zuerst lernend, dann selbst lehrend und forschend. 1512 wurde er wahrscheinlich in Pforzheim zum Priester geweiht, hat aber soweit bekannt niemals seelsorgerische Tätigkeiten ausgeübt. Eine Predigt, die er ein Jahr zuvor über die Armut vor dem Provinzialkapitel halten musste, schrieb ihm sein Lehrer Pellikan (Burmeister 1963, S. 24)!

Sein Interesse galt eher der wissenschaftlichen Forschung und ihrer Publikation. Münster, in der katholischen Lehre und dem Humanismus beheimatet, fühlte sich zunächst von Luthers Gedanken angezogen, wandte sich aber später – wie Pellikan, Oekolampad und Capito – der reformierten Lehre zu.

Seine Beweggründe offenbart er uns nicht. Den Austritt aus dem Orden zögerte er bis zum Jahre 1529 hinaus, als er durch die Berufung an die städtische Basler Universität ein ausreichendes, wenn auch nicht üppiges Einkommen hatte.

Er war jedoch, wie Burmeister hervorhebt, niemals ein fanatischer Reformator, sondern ein "Mann des Friedens", auch wenn ihm die Basler nach seinem Tode die Ehre der Beisetzung in einem Reformatorengrab erwiesen.

Von katholischen Zeitgenossen wurde er verschiedentlich unter die wichtigsten "Ketzer" gerechnet, und seine Werke wurden unterschiedslos auf den Index gesetzt, so Burmeister 1963, S. 103.

Seinen Charakter abschließend zu beurteilen, stellt sich nach Burmeister "als ein schwieriges Unterfangen dar. Zu viele Fragen sind offen, auf die wir nie eine Antwort finden werden."


Aus dem Vortrag Bobzins sei noch Folgendes ergänzt:

Mit seinem Lehrer Konrad Pellikan, den er in Rufach kennen und lieben lernte und dem er nach Pforzheim gefolgt war, gehörte er bald zu den ganz wenigen christlichen Gelehrten in Europa, die damals des Hebräischen mächtig waren. Bobzin zählt drei auf: Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Konrad Pellikan aus Rufach und Santes Pagninus aus Lucca.

In die Epoche seiner Heidelberger Dozentur, ab 1521 am Franziskanerstudium, ab 1524 an der Heidelberger Universität, fällt das Erscheinen seiner wichtigsten semitistischen Werke

- eine ausführliche hebräische Grammatik (Institutiones grammaticae in Hebraeam linguam, 1524 (links)

- eine ausführliche aramäische Grammatik (Chaldaica grammatica, 1527)

- und ein ausführliches aramäisches Lexikon (Dictionarium Chaldaicum, ebenfalls 1527 - siehe oben),

alle bei Johannes Froben in Basel, weil der als erster deutscher Drucker mit hebräischen Typen drucken konnte.

Bobzin hebt die gute Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten hervor, vor allem mit dem angesehensten jüdischen Sprachgelehrten seiner Zeit aus Deutschland, Eliah Levita ("Elijahu ha-Ashkenazi"), mit dem er viel auf Hebräisch korrespondierte, den er aber nie persönlich traf, was dieser in einem erhaltenen Brief an Münster bedauerte. Auch dessen Grammatik "Sefer ha-bahur" übersetzte Münster ins Lateinische und veröffentlichte sie 1525 mit einer eigenen Einleitung.

Luther kritisierte die zweisprachige hebräisch-lateinische Ausgabe des Alten Testaments durch Münster als "zu sehr von den Rabbinen abhängig", weil er sich nach seiner Meinung zu stark an rabbinische Kommentare gehalten hatte. Münster beschritt bei seiner Übersetzungstätigkeit auch einen sprachvergleichenden Weg, indem er äthiopische Wörter (von ihm "Indisch" genannt) mit "chaldäischen", d.h. aramäischen, und mit hebräischen Wörtern verglich.

Bobzin: "Jede große Wissenschaft fängt klein an: Münster beginnt in diesem 'Vorwort' mit der Entfaltung einer 'vergleichenden' Semitistik, oder noch genauer: einer 'wörtervergleichenden'."

 

Wegen seiner Heidelberger Verdienste um die Semitistik wurde 1978 ein Denkmalsbrunnen von Michael Schönholz auf dem Heidelberger Karlsplatz errichtet. Er enthält allerdings keine Motive aus der Semitistik, was wohl auch schwierig gewesen wäre, sondern stellt Sebastian Münster als Cosmographen dar, auf der Weltkugel stehend, und um ihn gruppiert weitere Motive aus der Cosmographie.

 

Bobzin beschließt seinen Vortrag mit folgendem Urteil:

"Münsters Verdienste um die Semitistik stehen also ganz außer Zweifel; er wies der Sprachvergleichung den Weg, er schuf hervorragende Hilfsmittel, Grammatiken wie Lexika des Hebräischen wie des Aramäischen, sowie eine kommentierte Ausgabe der hebräischen Bibel."

 

Gs, erstmals: 18.08.06; Stand: 21.12.20