(1. - 5. Jh. n. Chr.)
Autor: Hartmut Geißler
Im Jahr 2017 einer gründlichen Durchsicht unterzogen
unter Mitwirkung von Anke Karioth und André Madaus
Mit den Eroberungszügen der Römer kam eine Hochkultur vom Mittelmeer bis an den Rhein; sie brachte dem Ingelheimer Raum zuerst ihr Militär, dann im Laufe der Zeit auch ihre Wirtschafts- und Sozialstrukturen, ihre Straßen, ihren Handel, ihre Städte mit Foren, Tempeln, Theatern, Amphitheatern, Thermen, allgemein ihre Steingebäude mit Ziegeldächern, ihren hohen Holzverbrauch für Heizung und Gewerbe (Ziegel, Keramik, Zement, Metalle), ihre Religionen, darunter auch das Christentum, ihren Wein und nicht zuletzt ihr Rechtssystem und die lateinische Schrift.
Somit beginnt mit der Römerzeit die aufgeschriebene Geschichte unseres Raumes. Für Ingelheim selbst allerdings beschränkt sich diese Schriftlichkeit auf einige Inschriften, sodass die Ingelheimer Geschichte jener fünf Jahrhunderte weitestgehend aus der Geschichte von Mogontiacum/Mainz in Kombination mit archäologischen Funden erschlossen werden muss. Bis jetzt finden sich keine Quellen, die den römischen Namen Ingelheims überliefert haben. Es ist davon auszugehen, dass es im Bereich Nieder-Ingelheims einen Vicus gab. Vici waren kleine zivile Siedlungen, in denen Handel und Gewerbe betrieben wurde.
Tatsächlich hing die Ingelheimer Geschichte damals aufs Engste von den Ereignissen in und um Mainz ab: Dort wurde unter Kaiser Augustus und seinem Heerführer Drusus dem Älteren ab ca. 15 v. Chr. ein starker militärischer Stützpunkt errichtet, in dem bis zum Jahr 89 n. Chr. zwei Legionen dauerhaft stationiert waren. Auch nach der Reduzierung auf eine Legion wurde Mainz vom Militär dominiert. Die umliegenden Siedlungsgebiete der Aresaken, eines Teilstammes der keltischen Treverer, deren Hauptsiedlungsgebiet der Trierer Raum war, wurden unter Militärverwaltung gestellt. Sie mussten Tribute zahlen und eine eigene Reitertruppe, die Ala Treverorum, aufstellen und bezahlen. Zusammen mit den gleichfalls dort stationierten nicht-römischen Hilfstruppen belief sich die Zahl der multiethnischen Mainzer Soldaten (ohne ihre Angehörigen) zeitweise auf ca. 14.000 Mann.
Von Mainz aus fanden Feldzüge nach Germanien statt, und Mainz war lange Zeit Provinzhauptstadt der römischen Provinz Germania superior (Obergermanien), die sich vom Mittelrhein (Neuwied) bis an den Genfer See hinzog. Nach den Reformen des Kaisers Diocletian ab 293 n. Chr. bestand sie mit verkleinertem Gebiet als Provinz Germania I in der Spätantike fort.
Die gesamte landwirtschaftliche Struktur des Mainzer Umlandes richtete sich auf die Versorgung des Militärs und der zivilen Bevölkerung von Mainz aus: Produziert wurde Getreide (hauptsächlich Dinkel, aber auch Emmer, Gerste, Hirse, Weizen), Gemüse, Hülsenfrüchte, Kräuter, Obst und Fleisch.
Wein wurde bis weit in das 3. Jh. n.Chr. insbesondere aus Südfrankreich an den Mittelrhein geliefert. Erst dann gewann der Weinbau vor allem an der Mosel an Bedeutung, wie Funde von Kelteranlagen und -steinen belegen. Für das Mainzer Umland und den Ingelheimer Raum fehlen bislang eindeutige archäologische oder schriftliche Belege für römischen Weinbau. Doch ist davon auszugehen, dass zumindest für den eigenen oder lokalen Bedarf auch Wein angebaut wurde (Jung/König: Zur Frage des römischen Weinbaus in Rheinhessen). Sicher ist, dass trotz des Niedergangs des Reiches auch im 5. Jahrhundert an Rhein und Mosel Wein angebaut und der Weinbau ohne erkennbaren Bruch auch in der Merowingerzeit weiter betrieben wurde.
Schon im Verlauf des 1. Jahrhunderts schritt die Romanisierung, also die soziale und kulturelle Angleichung der einheimisch-keltischen Bevölkerung an die römische Zivilisation, schnell voran. Die Menschen übernahmen Sprache und zum Teil die Kleidung, Religion und Bestattungsriten usw. Das heißt aber nicht, dass keltische oder germanische Elemente gänzlich verschwanden. In vielen Punkten fand eine Vermischung statt – so entstand das, was unter dem Begriff gallo-römische Kultur bekannt ist. Ein anschauliches Beispiel für den Prozess der Romanisierung stellen die Figuren eines gallo-römischen Grabmonumentes aus dem 1. Jh. dar, die in Nieder-Ingelheim gefunden wurden. Die weibliche Figur trägt noch gallischen Schmuck und gallische Unterkleidung, darüber aber bereits eine römische Stola. Der Mann wiederum trägt über seiner Tunica eine Toga, die ihn als römischen Bürger ausweist.
Allmählich siedelten hohe Befehlshaber und ausgediente Veteranen römischer wie nichtrömischer Herkunft im Mainzer Umland inmitten sich romanisierender Kelten. Vor allem im zweiten Jahrhundert nach Christus gelangte unsere Region zu einem erheblichen Wohlstand in lang andauerndem Frieden.
Mainz war andererseits ein wichtiges Kriegsziel aufständischer römischer Befehlshaber (im 1. und 3. Jh.) und Ziel plündernder rechtsrheinischer "Barbaren"-Horden. Franken und besonders Alemannen drangen nach der Aufgabe des Limes ab 260 n. Chr. und mehrfach im 4. Jh. in römisches Gebiet ein. Von solchen Überfällen wurde der Ingelheimer Raum als Durchzugsgebiet mit den wichtigen Fernstraßen zwischen Mainz und Trier bzw. Koblenz immer wieder betroffen. Ab der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts brachten eine Wirtschaftskrise und die steigende Inflation (Münzverschlechterung) einen allgemeinen Niedergang, der sich bestimmt auch im Ingelheimer Raum ausgewirkt hat.
Katastrophal war der Einfall von Vandalen, Alanen und Quaden im Winter 406/407, den u.a. auch Franken in römischen Diensten auf der anderen Seite des Rheines aufzuhalten versucht hatten - vergeblich. Trotzdem ist noch bis zum Hunneneinfall 451 romanisches Leben in Mainz und Umgebung nachweisbar. In der Mitte des 5. Jahrhunderts jedoch geht die römische/romanische Zeit am Rhein zu Ende.
Drei Münzschatzfunde hat man auf Ingelheimer Gebiet bisher gemacht, Münzen, die zwar erfolgreich versteckt, aber später nicht wieder ausgegraben wurden, vielleicht weil ihre Besitzer umgebracht oder verschleppt wurden.
Archäologisch deuten Funde römischer Herkunft auf folgende Bauten in Ingelheim: ca. 13 Villae rusticae, zwei Viae stratae ("Straßen") und wahrscheinlich ein Vicus.
Für die Landgüter gilt dabei, dass bisher nur an einer Stelle wahrscheinlich Reste von römischem Mauerwerk gefunden wurden, während an allen anderen Stellen nur Kleinteilfunde auf Häuser schließen lassen.
Eine Villa rustica war ein größeres oder kleineres Landgut, dessen Häuser, umgeben von einer Mauer, inmitten ihres Landes lagen. Ungefähr so wie die folgende Rekonstruktion einer Villa rustica in Lauffen/Heilbronn durch das Limes-Museum, Aalen, könnten auch einige Ingelheimer Gutshöfe ausgesehen haben:
Die wahrscheinlich wichtigste römische Straße führte von Mainz und Finthen kommend gerade über den Mainzer Berg an Wackernheim vorbei, herunter durch Nieder-Ingelheim nach Bingen. An ihr lag der Ingelheimer Vicus (Gewerbegebiet, in der folgenden Abbildung rot umkringelt) in einer Ausdehnung etwa vom Saalgebiet in Nieder-Ingelheim bis zum heutigen Rathaus. Sie scheint zweibahnig mit einer Furt die Selz überquert zu haben. Vielleicht hat diese Straße in Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts mit der Bezeichnung "alte Strat" noch ihre Spuren hinterlassen ("alta strata" = hohe Straße, d.h. die über den Mainzer Berg; so Karl Heinz Henn, BIG 39, S. 30).
Auf eine dritte untergeordnete Straße im Bereich der heutigen Grundstraße (ins Selztal hinauf) weist ein römisches Gräberfeld am Nieder-Ingelheimer Friedhof hin, denn römische Gräberfelder waren üblicherweise außerorts und entlang von Straßen angelegt, so dass die Grabmäler von den Reisenden gesehen werden konnten.
Eine römische "Straße" (via strata) war tief ausgehoben und geschottert, an wichtigen Stellen auch gepflastert, mit Straßengräben an beiden Seiten. Sie verlief möglichst gerade, um nicht nur für den Handel, sondern auch für das Militär eine kurze Verbindung zu bilden. Ein Vicus war kein Bauern-"Dorf", wie das lateinische Wort oft übersetzt wird, sondern ein Gewerbemischgebiet von Handwerkern, Händlern und Dienstleistern mit Gebäuden, die giebelseitig zur Straße hin standen, oft auch mit einem Tempel.
Im Ingelheimer Museum befinden sich Originale und eine Kopie von Resten zweier Grabanlagen romanisierter Kelten: Links zwei überlebensgroße Figuren (zurzeit - 2021 - die Originale aus Wiesbaden) eines repräsentativen gallo-römischen Grabmonuments aus dem 1. Jh. n. Chr.; Fundort: Ingelheim, östl. oder westl. des Brückweges in der Höhe der Langgewann (heute nördl. der Autobahn), wo in römischer Zeit die nördliche Straße von Mainz nach Bingen verlief. Rechts daneben ein Grabstein einer gallo-römischen Familie aus dem 2. oder 3. Jh. mit einer Relieffigur und einer Inschrift; Fundort Ober-Ingelheim. Bis zum Oktober 2021 standen hier die Abgüsse der Figuren im Museum Wiesbaden. Nun wurden sie durch die restaurierten Originale ersetzt, die viel detailreicher sind und auf denen noch deutliche Farbspuren zu erkennen sind. Außerdem ist die Statue des originalen Mannes viel größer als die seiner Frau.
Reste einer bisweilen vermuteten Militärstation in Ingelheim sind bisher nicht gefunden worden. Sie wird heute allgemein für unwahrscheinlich gehalten und eigentlich auch als unnötig angesehen. Dass (im 4. Jahrhundert) auf dem Rhein patrouillierende Grenzschutzboote (Lusoriae) gelegentlich auch im Ingelheimer Hafen festgemacht haben mögen, bleibt davon unberührt.
Wahrscheinlich mit griechisch-orientalischen Kaufleuten kam auch das Christentum an den Rhein. So erklärt es sich, dass der neue Glaube zuerst einmal auf Städte beschränkt blieb, wo Griechisch sprechende Menschen lebten. Im stark griechisch geprägten Kaiserzentrum Trier kann man "Bischöfe" (griechisch: Episkopoi) schon seit dem 3. Jahrhundert nachweisen, in Mainz seit dem 4. Jahrhundert. Aus dem Griechischen stammt auch das deutsche Lehnwort "Kirche", das vom graecolateinischen Kyrika (von griech. Kyrios = Herr) abgeleitet ist.
Nachdem im vierten Jahrhundert das Christentum im ganzen römischen Reich anerkannt und in den Kreisen der höheren Gesellschaft sogar verpflichtend geworden war, könnte man annehmen, dass auch die Ingelheimer Bevölkerung allmählich christlich geworden ist. Aber viele Bauern auf dem Lande (pagani = Landleute, Heiden) opferten wohl noch bis in das 5. Jahrhundert hinein den alten Göttern. Vielleicht deshalb wurde schon um 340, also noch vor 381/2, dem allgemeinen Verbot heidnischer Kulte im ganzen Römischen Reich, in der Mosel-/Rheinregion der Kult in den heidnischen Heiligtümern untersagt. Aus Ingelheim gibt es bislang keine Funde mit christlichen Hinweisen aus der Römerzeit (wohl aber aus Bingen, Mainz, Bad Kreuznach und Alzey).
Der Ingelheimer Vicus und die umliegenden Villae rusticae waren möglicherweise schon im 4., aber spätestens im 5. Jahrhundert weitgehend zerstört bzw. verlassen, auch wenn einfache Germanenhöfe den Hunnensturm 451 unbeachtet überstanden haben mögen. Die gallo-römischen Namen der befestigten Orte, hinter deren Mauern die bedrängte Bevölkerung Schutz suchte - Bingium (Bingen), Mogontiacum (Mainz), Borbetomagus (Worms) und wohl auch Cruciniacum (Kreuznach) - haben zumindest in verstümmelter Form überlebt. Es begann das später so genannte "Mittelalter", an dessen Beginn für Ingelheim die Zeit der Merowinger steht.
Gs, erstmals: 25.07.05; Stand: 07.11.21