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Ingelheim im "langen 19. Jahrhundert" (bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914)


Autor und Fotos: Hartmut Geißler
Neueste Literatur dazu:
Traub, Sarah: Kurpfälzer, Franzosen, Rheinhessen - Ingelheim von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. In: Ingelheim am Rhein. Oppenheim 2019, S. 142-163

Inhalt:

  1) Hessischer Staat und Verwaltung
  2) Bevölkerungswachstum
  3) Wirtschafts-, Siedlungs- und Sozialstruktur
  4) Straßenbau
  5) Adlige und großbürgerliche Familien siedeln sich an
  6) Jüdische Familien in Ingelheim und die Synagoge in Ober-Ingelheim
  7) Ingelheimer in der Revolution 1848/49
  8) Vereinsgründungen bis zum Ersten Weltkrieg (in Auswahl)
  9) Presse
10) Eisenbahn und Industrialisierung
11) Landwirtschaft im Wandel
12) Schulen, Krankenhaus
13) Freizeit, Kultur
14) Kirchen
15) Politik und Verwaltung
16) Alldeutscher Verband, Heinrich Claß und der Bismarckturm


1) Hessischer Staat und Verwaltung

Am 8. Juli 1816 hatten sich die siegreichen deutschen Staaten Preußen und Österreich mit dem Großherzogtum Hessen über die letzten Einzelheiten der zukünftigen Besitzverhältnisse des Großherzogtums geeinigt: Westfalen fiel an Preußen, und Hessen bekam stattdessen den nördlichen Teil des französischen Departements Donnersberg, das später so genannte Rheinhessen.

Die feierliche Regierungsübernahme erfolgte am 12. Juli in Mainz, die Vereidigung der Ortsvorstände und Beamten des Kantons Ober-Ingelheim auf den Großherzog am 20. Juli (Bechtolsheimer 1916, S. 36).

Diese Zugehörigkeit von Rheinhessen zum rechtsrheinischen Hessen hatte Bestand bis 1945, als die Besatzungsmächte neue Grenzen zogen und der Rhein zur Grenze zwischen der französischen und der amerikanischen Besatzungszone wurde, aus denen die neuen "Länder" Hessen und Rheinland-Pfalz hervorgingen.

Ingelheim wurde dadurch für 129 Jahre "rheinhessisch". Provinzhauptstadt für Ingelheim wurde (bzw. blieb wie schon in französischer Zeit) Mainz. Zugleich wurde Mainz Festung des neuen Deutschen Bundes mit einer österreichischen und einer preußischen Garnison (bis 1866).

Aus den früher kurpfälzischen Ingelheimern wurden nun "Rhein-Hessen" der überwiegend linksrheinischen "Provinz Rhein-Hessen", einer bis heute beibehaltene Identität (Bezeichnung erstmals im Hessischen Amtsblatt vom 28. März 1818 verwendet). Auch die Bezeichnungen "Rheinbayern" für die heutige Pfalz und "Rheinpreußen" für die preußischen Rheinlande waren zeitweise in Gebrauch.

Das "Besitzergreifungs-Patent" vom 8. Juli 1816 sicherte "dem Lande die Erhaltung des wahrhaft Guten, was Aufklärung und Zeitverhältnisse herbeigeführt, die gleiche Vertheilung aller Staatslasten, sichere Justizverwaltung, die Wohlthaten eines gut eingerichteten öffentlichen Unterrichts, Freiheit des Glaubens und der Presse" zu (Hesse, Rheinhessen, S. 119).

Damit wurden viele Ergebnisse der französischen Reformen, so der Code civil, beibehalten. Wilhelm Hesse, der von 1816 bis 1835 in der Mainzer Provinzialverwaltung tätig war, formuliert im Vorwort seines Rechenschaftsbuches von 1835 die politischen Ziele seiner Verwaltungstätigkeit in Rheinhessen. Es sollte "jeder wahrhaft Nothleidende durch die Hülfe und Sorge der Verwaltung geschützt und gesichert, ... keine Gemeinde ohne guten, oder doch wenigstens befriedigenden Unterricht, kein schlechtes Schulhaus mehr vorhanden seyn, und ... alle größere und kleinere Verbindungswege in vollkommen gutem Zustande sich befinden." (Hesse, S. V)

Es sollten also die Anfänge eines Sozialstaates geschaffen werden, das Schulwesen verbessert und der Straßenbau vorangetrieben werden.

Die französische Kantonsaufteilung blieb vorerst erhalten, also auch die Zusammensetzung des "Kantons Ober-Ingelheim", bis am 4.2.1835 neue Landkreise geschaffen wurden und dadurch die Orte des Ingelheimer Grundes an einen neuen Landkreis "Bingen" fielen, der ehemaligen kurpfälzische mit kurmainzischen Gebieten vereinte, deren Unterschiede die Französische Revolution allerdings schon eingeebnet hatte.

Die Landeshauptstadt war Darmstadt, wo die großherzogliche Familie residierte und die Regierung und seit der Einführung einer Verfassung am 17.12.1820 ein Zweikammer- Parlament ihre Sitze hatten.

Das Wahlrecht für die zweite Kammer war freilich durch ein indirektes Zensuswahlrecht und die Wahl von Wahlmännern stark auf den Machterhalt von Adel und Besitzbürgertum zugeschnitten. Abgeordnete für den Wahlkreis, zu dem auch der Kanton Ober-Ingelheim gehörte, waren im ersten und zweiten Landtag der Heidesheimer Gutsbesitzer Wilhelm Metternich und im dritten Landtag Quirin Ewen, Bürgermeister aus Gau-Algesheim (Traub, S. 154). Auch dem Ober-Ingelheimer Dr. Martin Mohr, dem Vizepräsidenten des Mainzer Kreisgerichtes, gelang es, in den Landtag gewählt zu werden, aber für den Wahlkreis Nieder-Olm/Bretzenheim. Im Jahr 1850 war er ein Jahr Präsident des Landtages (daher "Präsident Mohr-Schule").

Diese Zugehörigkeit Ingelheims zu Hessen dauerte rechtlich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fort. Zwar wurde die Provinz "Rheinhessen" 1937 durch den Gauleiter Sprenger aufgehoben, aber als Verwaltungseinheiten bestanden die ehemaligen Reichsländer fort, auch wenn sie durch die NS-Gaue an Bedeutung verloren. Sie verschwanden letztlich erst durch die Grenzziehung der Besatzungszonen am Rhein durch die Siegermächte und ihre Politik der Neugründung von "Ländern", wodurch wieder ein neuer Regierungsbezirk "Rheinhessen" Bestandteil des neuen Landes "Rheinland-Pfalz" wurde.

Auch nach der Abschaffung dieser Regierungsbezirke blieb "Rheinhessen" bzw. "Rhoihesse" bis heute ein allgemein verwendeter und weithin bekannter Regionalbegriff, vor allem in Tourismus und Weinwerbung (siehe Rheinhessenwein-Anzeige oben). Als vor einigen  Jahren auf der Berliner Tourismus-Messe die Besucher gefragt wurden, was ihnen beim Wort "Hessen" am meinsten einfalle, wählten die meisten "Rheinhessen"...

Heutige Spuren dieser Zugehörigkeit zu Hessen:

a) Das erste neuzeitliche Nieder-Ingelheimer Krankenhaus an der Ecke Heidesheimer Straße / Stiftstraße wurde nach dem damaligen Großherzog Ludwig III. "Ludwigstift" benannt, und in Ober-Ingelheim gab es später eine "Ernst-Ludwig-Straße" nach dem letzten regierenden Großherzog. Sie wurde jedoch 1947 bei der Straßennamenbereinigung wegen der Zusammenlegung der Ingelheimer Orte 1939 in ihrem nördlichen Teil in "Hugo-Loersch-Straße" und im südlichen in "Präsident-Mohr-Straße" umbenannt (Jung, S. 27), weil es auch in Frei-Weinheim eine "Ludwigstraße" gab und diese ihren Namen behalten sollte.

b) Viele Bauten um die Jahrhundertwende wurden vom Darmstädter Jugendstil beeinflusst, so manche Häuser in der Grundstraße und das Innere der evangelischen Kirche in Frei-Weinheim.

 

c) Am 2. oder 3. Februar 1905 wurde in der Aufhofstraße (eigentlich seit dem Mittelalter "Uffhub") eine Kastanie gepflanzt, gestiftet vom hessischen Oberamtsrichter Dr. Anton Karl Moritz Müller, der man damals den heute vergessenen Namen "Ernst-Eleonoren-Baum" gab, nach dem Großherzog Ernst-Ludwig und seiner am 2. Februar mit ihm verheirateten (zweiten) Gattin Eleonore von Solms-Hohensolms-Lich.

Bei dieser Gelegenheit war auch eine entsprechende Umbenennung der Uffhubstraße angeregt worden, was aber nicht geschah. (Rheinhessischer Beobachter, Montag, 4.9.1905)

Links: Die Kastanie in ihrer heutigen Pracht (Foto: Geißler)

 

2) Das Bevölkerungswachstum im 19. (und 20.) Jahrhundert

Die Bevölkerung der heutigen vier Ortsteile (Ober-Ingelheim, Nieder-Ingelheim, Großwinternheim und Frei-Weinheim) wuchs schon vor der Industrialisierung, aber erst recht danach gewaltig an, begünstigt durch die langen Friedenszeiten des 19. Jahrhunderts, durch bessere Hygiene und durch wachsende landwirtschaftliche Produktivität. Siehe unten!

So verdoppelte sich die Bevölkerung der vier Ursprungsorte de heutigen Stadt Ingelheim (noch ohne Heidesheim und Wackernheim) von 3.967 Einwohnern im Jahre 1815 auf 8.489 im Jahre 1905, und zwar leicht unterdurchschnittlich in Ober-Ingelheim, stark überdurchschnittlich in Nieder-Ingelheim, rasant in Frei-Weinheim und nur wenig in Großwinternheim, denn die Industrialisierung fand an der Rheinschiene statt, also in Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim, aber nicht im Selztal (Ober-Ingelheim und Großwinternheim). Dieses Wachstum speiste sich nicht nur aus der hohen Zahl überlebender Kinder der Einheimischen, sondern auch aus Zuwanderern ärmerer Gebiete, z. B. aus dem Hunsrück.

Das 20. Jahrhundert brachte ein weiteres Wachstum bis zu den 26.355 Einwohnern Ende 2006, dem vorläufigen Höhepunkt der letzten Jahre. Die Bevölkerungszahl hat sich also seit 1905 nochmals mehr als verdreifacht. Auch dabei fand wiederum das größte Wachstum in der Gemarkung des alten Nieder-Ingelheim statt.

Aber fast das ganze 19. Jahrhundert über trennten noch weite Felder und Wingerte ohne Wohnbebauung die Siedlungskerne der vier Orte. Auch der Weiler Sporkenheim, der zu Nieder-Ingelheim gerechnet wurde, bestand aus nur wenigen Höfen. 

Ort1815183418611885 19052007
Ober-Ingelheim1738
 (100%)
2371
 (136%)
2673
 (154%)
3160
 (181%)
3402
(196%)
Nieder-Ingelheim 
(mit Sporkenheim)
1360
 (100%)
2130
 (157%)
2352 
(173%)
2729 
(200%)
3435
(253%)
Großwinternheim677
(100%)
797
(118%)
811
(120%)
814
(120%)
Frei-Weinheim192
(100%)
439
(229%)
606
(316%)
701
(365%)
838
(436%)
Summen3967
(100%)
5737
(145%)
6442
(162%
8489
(214 %)
24414
(615%)

 

3) Wirtschafts-, Siedlungs- und Sozialstruktur

Die erste Hälfte der 1820er Jahre war von einem starken Preisverfall für Agrarprodukte gekennzeichnet, der teils durch Ausfuhrhemmnisse (Zölle), teils durch mehrere gute Ernten verursacht war. Dies führte zu Finanzproblemen bei Gutsbesitzern und zu Arbeitslosigkeit bei Tagelöhnern, so dass es viele Zwangsversteigerungen gab und der Tagelohn von 28 Kronen auf 12 Kronen sank. (Hesse, S. 159) Erst 1828 bzw. 1834 fielen durch politische Vereinbarungen (Deutscher Zollverein) die Zollgrenzen an der Nahe (nach Preußen) und am Rhein (nach Nassau) weg - eine große Erleichterungen für den Ingelheimer Handel, insbesondere für den Weinhandel.

In den 40er Jahren versuchten viele rheinhessischen Familien, nach Brasilien auszuwandern, illegal oder mit amtlicher Erlaubnis, weil sie durch die Versprechungen von Auswanderungs-Agenten zum Aufbau von Petropolis angeworben wurden. Die Darmstädter Regierung und die Mainzer Provinzregierung warnten zwar mehrfach eindringlich vor den Risiken, aber die neue Welt bot größere Chancen. Diese Auswanderungswelle war deshalb keine Armutsauswanderung wie aus der Pfalz und aus dem Hunsrück. Wer legal auswandern wollte, musste vorher nachweisen, dass er keine Schulden mehr hatte und dass niemand aus der Auswandererfamilie noch wehrpflichtig war (Dokumente im Stadtarchiv).

Bis zum Beginn der Industrialisierung in den 60er Jahren verging ein halbes Jahrhundert, in dem die Ingelheimer Orte durchweg landwirtschaftlich geprägt blieben, von der üblichen Mischung aus Feldbau, Sonderkulturen und Viehhaltung.

1883 gab es in den vier Ingelheimer Dörfern noch 2.228 (!) Rinder und 1907 noch 2.050 Schweine. Erst viel später bildeten sich reine Weinbaubetriebe heraus. Deshalb prägen die entsprechenden klein- bis mittelbäuerlichen Hofformen bis heute für die Ortsbildes. Sogar innerhalb der Wehrmauern von Ober-Ingelheim existierten in der Jahrhundertmitte immer noch große landwirtschaftliche Flächen, und Wohnbebauung gab es nur an den wenigen innerörtlichen Straßenachsen.

Die größeren Adels- und Kirchengüter in Ober- und Nieder-Ingelheim waren von Bürgerlichen gekauft worden und konnten z. T. erfolgreich fortgeführt, aber auch geteilt werden. Insbesondere die großen Güter von Großwinternheimwurden aufgeteilt, so dass dieser Ort, dessen Bild in der vorrevolutionären Zeit noch von wenigen großen Adelspalais geprägt war, nun durch kleinere Bauernhöfe dicht bebaut wurde. Seine Wehrmauern und Tore wurden in dn 1830er Jahren überwiegend abgetragen.

InNieder-Ingelheim füllte die allmählich wachsende Wohnbebauung zuerst den Raum zwischen Belzer, Saal und Oberböhl aus, später wuchs sie an der Binger Straße entlang in Richtung Westen.

4) Straßenbau

Zur Verbesserung der Infrastruktur, aber auch zur Arbeitsbeschaffung ließ die großherzogliche Regierung in den Jahren 1829-1832 zwölf Provinzialstraßen durch Rheinhessen bauen, davon zwei Straßen in Ingelheimer Gemarkung:

a) Nieder-Ingelheim – Gau-Algesheim – Gensingen und
b) Nieder-Olm – Stadecken – Elsheim – Schwabenheim – Groß-Winternheim – Ober-Ingelheim – Nieder-Ingelheim

Die neuen Straßen sollten eine Breite von 30 Fuß (25 cm x 30 = 7,50 m; H. G.) zwischen den Straßengräben haben, davon 6 Fuß als Fußweg, 12 Fuß (= 3 m.) als Steinbahn und 12 Fuß als nicht gepflasterter Sommerweg. Neben die Straßen sollten Apfel-, Birn- und Nussbäume gepflanzt werden.

Die Straße von Nieder-Olm nach Nieder-Ingelheim ersetzte den alten Rheinweg, der sich auf der anderen Seite der Selz entlang zog. Da sie durch den früheren "Ingelheimer Grund" verlief, bekam sie den Namen "Ingelheimer Grundstraße", der sich als "Grundstraße" nur noch in Ingelheim erhalten hat. Zu den näheren Umständen dieser Straßenbaumaßnahmen, ihrer Finanzierung und zu Risszeichnungen siehe Hesse, S. 159 - 280.

Die Gemeinden wurden darüber hinaus angehalten (und dazu auch finanziell unterstützt), Vicinalwege (= Straßen zwischen den Nachbarorten) (aus-) auszubauen und zu pflastern.

1900 beschloss auch der Nieder-Ingelheimer Gemeinderat, die Ortsdurchfahrt zu pflastern, also die heutige Mainzer und Binger Straße. In Ober-Ingelheim wurde für diese neue Straße nach Süden als Fortsetzung des Neuwegs angelegt und durch die alte Wehrmauer gebrochen.

Am Neuweg wurde 1909 das noch erhaltene Gebäude des hessischen Amtsgerichtes errichtet, damals bewundert wegen aller neuzeitlichen technischen Einrichtungen, mit denen es ausgestattet war: Zentralheizung, Wasserleitung, elektrisches Licht und Telefonanlage.

Als Verbindung zum neuen Bahnhofin Nieder-Ingelheim wurde 1876 die gradlinig auf ihn zu führende Bahnhofstraße gebaut, wofür gleichfalls ein Stück der noch bestehenden Wehrmauer abgetragen wurde.


5) Adlige und großbürgerliche Familien siedeln sich an

In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde Nieder-Ingelheim mit seinem schönen Blick auf Rhein und Rheingau, später verstärkt noch durch die gute Eisenbahnanbindung, attraktiv für überwiegend großbürgerliche Familien, die die ländliche Rhein-Idylle suchten, hier preiswerten Grundbesitz fanden und sich in vielfältiger Weise um Ingelheim verdient gemacht haben (außer Dekker). 

Zu nennen sind hier:
- Gustav Johann Freiherr von Mengden
- Natalie von Harder
- Albert Gerhard de Roock
- Friederike Gertrude van Krieken
- Dr. Wilhelm von Erlanger und seine junge Frau Caroline
- Eduard Douwes Dekker
- Heinrich (von) Opel

 Unten: Die "Villa Carolina", von Norden her, benannt nach der jungen Ehefrau des Barons Wilhelm von Erlanger

 

6) Jüdische Familien in Ingelheim und die Synagoge in Ober-Ingelheim

Während im Mittelalter jüdische Familien in den Ingelheimer Orten nur vereinzelt nachzuweisen sind, gibt es seit dem 14. Jahrhundert Hinweise auf hier ansässige Juden, die in Geld- und Pfandleihgeschäften sowie im Handel tätig waren. Dies setzte sich – mit Schwankungen – auch im 16. bis 18. Jahrhundert fort. Jüdische Friedhöfe gab es in Ober- und Nieder-Ingelheim (im Saal) sowie in Großwinternheim.

Nach der Judenemanzipation in der französischen Zeit und gewiss im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Ingelheimer Dörfer im 19. Jahrhundert nahm auch hier die Zahl ansässiger jüdischer Familien stark zu, von 97 in OI, NI und GW im Jahre 1804 auf 162 im Jahre 1910. Sie waren überwiegend als Krämer, Wein- und Viehhändler und als Schlachter tätig, einige auch im Ackerbau.

Um ein Gewerbe ausüben zu dürfen, mussten sie nach einem Dekret Napoleons vom 1808, das in Rheinhessen (wie im preußischen Rheinland) bis 1847 (s. Keim, S. 126) übernommen wurde, jährlich zuerst ein Leumundszeugnis beim jüdischen Vorstand erwirken, das sog. Moral-Patent, worin ihnen bestätigt werden musste, dass sie keinen Schacher- oder Wucherhandel (als Hausierer bzw. private Geldverleiher) betrieben. Danach entschied der Gemeinderat gegen eine Gebühr über das Gesuch. Diese Bestimmung, die auf den ersten Blick diskriminierend erscheint, sollte die völlige Integration der Juden in andere Berufsbereiche fördern und trug zusammen mit der streng überwachten Schulpflicht für jüdische Kinder wahrscheinlich zum Erreichen dieses Zieles bei. 

Unter den 789 Schulabgängern der Höheren Bürgerschule Ober-Ingelheim von 1895 bis 1936 waren 87 Schüler mosaischen Glaubens, also etwa 11 %. (Schularchiv Sebastian-Münster-Gymnasium)

Im Jahre 1841 konnte sich die jüdische Gemeinde in Ober-Ingelheim eine Synagoge bauen, hinter dem Wohnhaus Nr. 25 in der Stiegelgasse gelegen. Sie wurde auch von Juden aus der Umgebung Ober-Ingelheims mitbenutzt, aber 1938 im Gefolge der Reichspogromnacht von radikalen Nationalsozialisten zerstört.

 

7) Ingelheimer in der Revolution 1848/49

Der wachsende politische Unmut gegen die spätabsolutistische Fürstenregierungen suchte sich im sog. Vormärz ein in Rheinhessen vielfach benutztes Ventil, die Gründung von Veteranenvereinen oder lockeren Kameradschaften, die die Erinnerung an die freilich romantisch verklärte Zeit Napoleons pflegten. Nur in Großwinternheim erwuchs daraus auch ein Denkmal (1844 errichtet).

Einige Ereignisse zeugen vom Engagement Ingelheimer Bürger in den Revolutionsjahren 1848/49:
- die Aktivitäten von Dr. Martin Mohr,
- das fehlgeschlagene Attentat auf den preußischen Kronprinzen in Ingelheim
- die Teilnahme von Freischärlern am vergeblichen Widerstand gegen die preußischen Truppen in Kirchheim-Bolanden und
- die Sympathien für die Revolution, die manche Ingelheimer Lehrer hegten (siehe Themenseite).


8) Vereinsgründungen bis zum Ersten Weltkrieg
(in Auswahl, aus "Ingelheim 74" und Saalwächter, BIG 9, S. 31 ff.)

Gesellschaftlich-politisch:
1. Casino-Gesellschaft Ober-Ingelheim: informeller Freundeskreis schon seit dem 1. Viertel des 19. Jahrhunderts in verschiedenen angemieteten Zimmern (Geschichte, S. 14), erste förmliche Satzung aus dem Jahr 1846. Eine offene Kegelbahn im Gartengrundstück von Dr. Martin Mohr (Rinderbach 10) wurde den vereinsmitgliedern zur Nutzung freigesellt; 1881 Erwerb des heutigen Grundstückes des Hauses Burggarten; Name "Haus Burggarten" seit 1934, nachdem die Nationalsozialisten den Verein aufgelöst hatten; die Räumlichkeiten benutzten nun dee Hitler-Jugend und die Volkssturmleitung (siehe Berndes).

Turn- und Sportvereine:
1. Turngemeinde Nieder-Ingelheim: 1847; Damenriege 1911
2. Turngemeinde Ober-Ingelheim: Gründung am 19. März 1848; 16. April: 75 Mitglieder; 27. Mai 1848: Gesangsriege; nach der Revolution 1849 bis 1861 aufgelöst; 1873: Bau der Turnhalle am Malakoffturm; 1912: Damenriege
3. Schützenverein Ober-Ingelheim: 1859
4. Turn- und Sportgemeinde Großwinternheim: 1861
5. Turnverein Frei-Weinheim: 1902
6. ein Fußball-Klub in Nieder-Ingelheim (1908), dem Baron von Erlanger Wiesen am Wasserwerk zum Spielen zur Verfügung stellte (Ingelheimer Anzeiger vom 31. März 1908)
7. Der erste regelrechte Fußballverein, die "Schwarze Elf", wurde am 15. Dezember 1913 in der Gaststätte Dexheimer (Bahnhofstraße) gegründet (AZ, 15.07.13).

Gesangvereine:

1. Liedertafel Ober-Ingelheim: 1855
2. Gesangverein "Liederkranz" Frei-Weinheim: 1857 (bis 2016)
3. Männergesangverein "Germania" Ober-Ingelheim: 1862
4. Männergesangverein Großwinternheim: 1866
5. Männergesangverein "Concordia" Nieder-Ingelheim:1861
6. Männergesangverein "Einigkeit" Nieder-Ingelheim: 1885 (bis 2013)
7. Arbeitergesangverein "Freiheit": 1905 (aufgelöst 1933)
8. Chorvereinigung 1910 Frei-Weinheim: 1910 (aufgelöst 2001)

Fastnachtsvereine:
1."Närrischer Verein zu Nieder-Ingelheim": mindestens schon 1879 (laut zweier Einladungen zu Carneval-Sitzungen "in dem Lokal der Wtw. Hilgert auf dem Behl [Böhl]"; Dank an Peter Weiland)
2. Carnevals- und Sparverein „Wäschbächer“, Nieder-Ingelheim: 1885
3. Ingelheimer Carnevalsverein Ober-Ingelheim: 1898
4. Carneval-Verein Frei-Weinheim: 1900
5. Fidelitas Ober-Ingelheim: 1906
6. Schnokenclub Ober-Ingelheim: 1912
7. Club Geselligkeit Großwinternheim
8. (und Narrenclub Ingelheim: 1987; s. Nieraad-Schalke 2019, S. 489-493 und Anm. 20)

Kulturell:
1. "Volksbildungsverein für beide Ingelheim":1868
2. Historischer Verein Ingelheim: 1905

Sozial:
1. Pestalozziverein Nieder-Ingelheim 1847 als Wohltätigkeitsverein
2. Frauenverein zur Unterstützung kranker Frauen und Wöchnerinnen:1872
3. Krankenkassenverein: etwa 1864

Wirtschaftlich:
Konsumvereine und Zwecksparkassen: seit den sechziger Jahren

 

9) Presse

Nach der Revolution erschien auch die erste regelmäßige Ingelheimer Zeitung, das Ingelheimer Wochenblatt, und zwar ab dem 1.5.1852. 1899 begann der Ingelheimer Beobachter sein Erscheinen, der sich 1900 in Ingelheimer Anzeiger umbenennen musste. Parallel dazu erschien ab 1859 der Rheinhessische Beobachter, der ab 1923 mit dem Ingelheimer Beobachter/ Anzeiger zusammengelegt wurde und fortan Ingelheimer Zeitung hieß (bis 1940 und 1950-1956). Diese wiederum wurde 1957 von der Mainzer Allgemeinen Zeitung übernommen.


10. Eisenbahn und Industrialisierung

(siehe auch Themenseite Industrialisierung Ingelheims)

Der Bau der hessischen "Ludwigsbahn" von Mainz nach Bingen wurde nach langwierigen Verhandlungen mit einem Bankenkonsortium über die Finanzierung 1859 endlich vollendet. Ihr Bahnhof wurde wegen Grundstücksschwierigkeiten nicht unterhalb des Belzer gebaut, wohin die Grundstraße hätte verlängert werden können, sondern weiter westlich ins freie Feld an die Selz.

Diese Eisenbahn hatte einen Anschluss an das preußische Eisenbahnnetz in Bingerbrück und gab den Startschuss zur Industrialisierung Nieder-Ingelheims, denn sie schuf in Zusammenhang mit der napoleonischen Straße und der Rheinstraße zum Hafen sowie der Selz als Frischwasserlieferant und Abwasserkanal sehr gute Standortbedingungen für Industrieansiedlungen.

Außerdem zwang die Ingelheimer Sozialstruktur der kinderreichen Bauernfamilien mit immer kleineren Betriebsgrößen (nach Erbteilungen) viele junge Männer dazu, sich anderweitig zumindest eine Zusatzarbeit zu suchen. Und viele zogen die ganzjährig kontinuierliche Industriearbeit auch unter den schlechten damaligen Produktionsbedingen (lange Arbeitszeiten, gesundheitsschädigende Produktionsweisen) einer unregelmäßigen, weil saisonalen Tagelöhnerarbeit in der Landwirtschaft vor. Um diese Arbeitskräfte nicht zu verlieren, versuchten manche Bauern im Gemeinderat, aber auch Wilhelm von Erlanger – vergeblich – solche Industrieansiedlungen zu verhindern.

Nieder-Ingelheim wandelte sich deshalb relativ schnell von einem reinen Bauerndorf zu einer sowohl aus Bauern als auch Arbeitern gemischten Gemeinde und hatte so gegen Ende des 19. Jahrhunderts den größten Bevölkerungszuwachs.

Vielfach wurden beide Tätigkeiten im Typ des "Feierabendbauern" verbunden, der neben seiner industriellen Haupttätigkeit in immer geringeren Maße auch noch Landwirtschaft betreibt, eine Lebensgestaltung, die es vereinzelt bis heute gibt. Dass diese Verbindung beider Tätigkeiten auch von Unternehmensleitungen akzeptiert und sogar gefördert wurde, erkennt man an einer Zeitungsmeldung des Ingelheimer Anzeigers vom 20. September 1902:
Nieder-Ingelheim. Zum Schluß der Frühburgunderlese, die in diesem Jahr sehr reichlich ausfiel, gab Herr Fabrikant Albert Boehringer seinen Arbeitern, die beim Herbsten des Frühburgunders beschäftigt waren, am Freitagabend ein Winzerfest, das bei Gesang und Tanz und einem guten Trunk einen frohen Verlauf nahm.

Zur Anbindung der Selztalgemeinden wurde 1904 die Selztalbahn der Süddeutschen Eisenbahngesellschaft eröffnet, die vom ausgebauten Hafen in Frei-Weinheim über den Nieder-Ingelheimer Bahnhof das Selztal hinauf bis nach Partenheim fuhr. Bei ihrem Bau wurde eine größerer Zahl ausländischer Arbeitskräfte beschäftigt, Italiener, die in Großwinternheim untergebracht waren und dort auch den Gottesdienst besuchten, so dass der Pfarrer Philipp Koch zuerst in deutscher und dann auch in italienischer Sprache predigte. Da die Bahn vielfach Zuckerrüben transportierte, bekam sie im Volksmund den liebevollen Namen "Zuckerlottchen". Ihr Betrieb wurde nach einem halben Jahrhundert wegen dauernder Unrentabilität eingestellt.

Gegen Ende des Jahrhunderts entstanden für die wachsende Arbeiterzahl typische Arbeitersiedlungen(im Umfeld der Rheinstraße) und vereinzelte repräsentative Fabrikantenvillen (Villa Funke in der Rheinstraße und Villa Schneider in der neuen Bahnhofstraße).

Diese Bahnhofstraße wurde 1876 als gerade Verbindung von Ober-Ingelheim zum neuen Bahnhof in Nieder-Ingelheim gebaut. Sie bot Platz für neue Villen, Winzerhöfe, für Wohn- und Geschäftshäuser und bildete zusammen mit der Grundstraße die beiden Achsen, an denen und zwischen denen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Nieder- und Ober-Ingelheim durch Wohnbebauung immer dichter zusammenwuchsen. In Ober-Ingelheim regelten ein "Ortsstatut" von 1887 und ein "Lokal-Polizei-Reglement" von 1906 die explodierende Bautätigkeit. Ein besonders schönes Beispiel für Bürgerhäuser der Gründerzeit und des Jugendstiles bietet die Grundstraße.

Aufgrund dieser Entwicklung gab es auch schon vor dem Ersten Weltkrieg erste Initiativen, die beiden Ingelheim zu einer Stadt vereinigen (Juli 1909), denn sowohl die Ausdehnung in der Fläche als auch die durch die Industrialisierung nötige und mögliche Infrastruktur (Straßen, Wasser, Strom, Gas, Abfall) erforderten geradezu eine gemeinsame Stadt.

Bei der Auto-Rallye Paris-Berlin fuhren am 26. Juni 1901 die Autos zwischen einer großen Zahl Schaulustiger mit Schnellzugsgeschwindigkeit die Landstraße in Nieder-Ingelheim entlang. Der Nieder-Ingelheimer Julius Weitzel fuhr ab 1905 mit eigenem Auto durch die Orte. Die ersten Auto-Besitzer in Ober-Ingelheim sollen nach Herbert, S. 326, der Herr von Opel, die beiden Ärzte Dr. Höchstenbach und Dr. Levi sowie der Weingutsbesitzer Neus gewesen sein. Der anwachsende Autoverkehr führte aber schon 1912 zu einer – damals vergeblichen – Forderung, den ebenerdigen Bahnübergang im Bereich der Zementfabrik (heute Boehringer) durch eine Unterführung zu ersetzen, wegen der häufigen Verkehrsstörungen und der damit verbundenen Gefahren.

Sogar beim Karussellbetrieb wurden Dampfmaschinen damals eingesetzt. Bei der Nieder-Ingelheimer Kerb konnten Kinder im September 1900 auf einem Dampf-Karroussel fahren, das von einer Dampfmaschine von 400 PS angetrieben wurde.


11) Landwirtschaft im Wandel

Auch die Landwirtschaft erfuhr im 19. Jahrhundert einen tiefgreifenden Strukturwandel. Weil nämlich durch das starke Bevölkerungswachstum in vielen Bauernfamilien die landwirtschaftliche Nutzfläche pro Betrieb immer mehr schrumpfte, mussten sich viele Kleinbauern verstärkt der Obst- und Gemüseerzeugung sowie dem Weinbau zuwenden, denn die waren arbeitsintensiv, nicht flächenintensiv.

Tradition hatten beide Anbauarten durchaus in den Ingelheimer Orten. Sowohl die Kurpfälzer Regierung als auch die französische hatten das Pflanzen von Obstbäumen an den Straßenrändern gefordert. Für Ober-Ingelheim gibt das Visitationsprotokoll der Kreisverwaltung von 1835 zum Beispiel an, dass es viel Obstbäume und gutes Obst gebe sowie eine private Baumschule. Seit der Jahrhundertmitte gab es überhaupt in Deutschland einen allgemeinen Aufschwung des Obstanbaues, der von den Regierungen und dem Deutschen Pomologenverein vielerorts gefördert wurde. Am Rhein, d. h. auf Frei-Weinheimer und Nieder-Ingelheimer Gemarkung, eigneten sich überschwemmungsgefährdete Anbauflächen besser für den Obstbau als für Getreide- oder Hackfruchtanbau.

Die Eisenbahn machte es dann möglich, relativ schnell große Mengen an frischem Obst und Gemüse (vor allem Äpfel, Kirschen, Spargel) zu weiter entfernten Zielen zu transportieren, z.B. ins preußische Rheinland bis ins Ruhrgebiet.

Im Jahre 1900 wurden im Rahmen einer allgemeinen Obstbaumzählung im Deutschen Reich allein in Nieder-Ingelheim 62.530 Obstbäume gezählt. Dennoch erwähnt Lott unter den Gegenden mit verdichtetem landwirtschaftlichen Obstbau bzw. mit Obstbauzentren Ingelheim nicht (etwa im Gegensatz zum nahen Umland von Mainz).

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dürften sich in Ingelheim auch die neuesten wissenschaftlichen Methoden zum Obstbau durchgesetzt haben.

Zur besseren Vermarktung ihrer Produkte schlossen sich nach der Jahrhundertwende viele Erzeuger in Nieder-Ingelheim zu einem Obst- und Gartenbauverein zusammen (1901), der 1909 und 1911 die beiden Teile der Nieder-Ingelheimer Markthalle an der Binger Straße erbauen ließ. Die Ingelheimer Obstbauern folgten damit einem Trend zu Obst- und Gemüse-Absatzgenossenschaften, der in den 1880er Jahren in Deutschland begonnen hatte. Aus diesen Anfängen entwickelten sich im 20. Jahrhundert durch fortgesetzten Strukturwandel, besonders unter dem Einfluss der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 1967 gegründeten "Vereinigten Großmärkte für Obst und Gemüse Rheinhessen e.G." (VOG). Ebenso schlossen sich die Nieder- und Ober-Ingelheimer Winzer im Jahre 1901 zu (getrennten) Genossenschaften zusammen. An der Binger Straße entstand der schöne Bau der Nieder-Ingelheimer Winzergenossenschaft.

Die Reblausplage führte im Jahre 1908 zu einer Krise des Weinbaues auch in Ingelheim; die Zeitung berichtete, dass der Mut der Winzer zu Neuanpflanzungen von Weinbergen geschwunden sei. Mangel an Arbeitskräften (!) und Missjahre hätten viele Weinbergsbesitzer veranlasst, selbst ertragfähige Weinberge in guten Lagen auszuhauen und anderes anzupflanzen. Die Situation besserte sich aber in den folgenden Jahren wieder.

Im Jahre 1913 wurde vom Ober-Ingelheimer Gemeinderat eine Zusammenfassung von Lagebezeichnungen beschlossen, nach der es auf dem Mainzer Berg nur noch neun geben sollte (Horn, Burgweg, Hesselweg, Füllkeller, Auf der Platte, Burgweg, Pares, Atzel, Unft) und auf dem Westerberg noch vier (Salzborn, Kreis, Geisberg und Rheinhöhe).


12) Schulen, Krankenhaus

In und seit der französischen Zeit stand es zuerst einmal schlimm um die Schulen Rheinhessens, sicherlich auch um die in Ingelheim. Hesse beschreibt die Zustände 1835 allgemein (S. 127-128):

Nur wenige Schulhäuser waren von erträglicher Beschaffenheit. Fast alle hatten kaum Raum für den vierten Theil der schulfähigen Kinder; Bänke, Tischen waren in unbrauchbarem Zustande, die Lehrer mit oft sehr zahlreichen Familien auf ein kleines Stübchen mit einer Kammer beschränkt. Der Raum für zwei Kühe und das nötige Futter fehlte häufig. Selbst die Abtritte gehörten zu den seltenen Einrichtungen. ( ... ) Da in Rheinhessen der Steinbau wohlfeiler als der von Holz ist, so wurden die neuen Gebäude von Stein aufgeführt... Zu Einzelheiten der Schulbauten und der Lehrerexistenz siehe hier!

Das Bevölkerungswachstum der folgenden Jahrzehnte machte aber gegen Ende des Jahrhunderts wieder Neubauten nötig, die sich bis heute sehen lassen können. Während für die ständig wachsende Zahl von Schülern in Nieder-Ingelheim die beeindruckenden Gebäude der "Pestalozzi-Schule" als Volksschule gebaut wurden (1880, Erweiterungen 1903 sowie 1912/13), wurde in Ober-Ingelheim 1883 die heutige "Präsident-Mohr-Schule" errichtet und 1892-94 erweitert. Frei-Weinheim hatte schon 1877 eine neue Volksschule gebaut (Erweiterung 1908).

Die Schülerzahlen der Volksschulen erreichten damals eine beängstigende Höhe: In Nieder-Ingelheim gehörten 1902 zu den beiden Unterklassen 115 bzw. 120 Kinder, die aber nicht alle auf einmal unterrichtet wurden!

Nach dem neuen hessischen Schulgesetz desselben Jahres 1902 durften unter besonderen Umständen bis zu 100 Kinder in einer Klasse sein. Der Lehrerverband forderte 50 Schüler als Obergrenze. Klassen mit so großen Zahlen wurden natürlich in Gruppen geteilt, die getrennt Unterricht bekamen, was jedoch die Unterrichtszeit für die jeweilige Teilgruppe reduzierte. Die körperliche Züchtigung wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr eingeschränkt. Sie sollte - falls überhaupt nötig - stets in väterlicher Weise geschehen, das (vom Ministerium im Einzelnen) angeordnete Maß nicht überschreiten und konnte von der Schulbehörde auch bestraft werden, wenn sie aus pädagogischen Gründen unstatthaft war. Mädchen durften gar nicht geschlagen werden.

Fünfzig Ober-Ingelheimer Schulkinder, sofern sie bedürftig waren, erhielten im Jahre 1910 vom Frauenverein täglich ein warmes Frühstück, bestehend aus einem Schoppen warmer Milch und zwei Paarweck.

Nach einer privaten Lateinschule in Großwinterheim im evangelischen Pfarrhaus durch Pfarrer Dr. Krumm von 1871-1886 wurden seine Bemühungen um eine weiterführende Schule in Ober-Ingelheim fortgesetzt. 1890 wurde dort eine "Höhere Bürgerschule" gegründet, eine öffentliche Lehranstalt unter staatlicher Aufsicht, orientiert an den Lehrplänen der Realschulen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt, aber nur bis zum neunten Schuljahr. Sie begann mit 47 Schülern und fünf Lehrkräften. 1896 kamen die Mädchen der Höheren Töchterschule hinzu. Sie bot auch Lateinunterricht an. Seit 1891 war sie nur unzureichend in einem eigenen kleinen Gebäude in Ober-Ingelheim, Bahnhofstraße 119, untergebracht. Im Jahre 1908 kostete das jährliche Schulgeld für diese Schule zwischen 100 und 140 Mark, für begabte und bedürftige Schüler konnte es erlassen werden. Erst 1924 wurde sie zur vollen Realschule (bis Klasse 10) ausgebaut. Heute ist ihr Gebäude schön restauriert. Aus ihr ging nach dem Zweiten Weltkrieg das heutige Sebastian-Münster-Gymnasium hervor.

1844 entstand in Ober-Ingelheim ein Gewerbeverein, und dieser gründete noch im gleichen Jahr eine Handwerker-Zeichenschule. Gelehrt wurden technisches Zeichnen und Rechnen. Der Unterricht wurde sonntags erteilt. Deshalb nannte man diese Schule auch "Sonntagsschule". Etwa 1885 richtete der Staat dann eine Fortbildungsschule ein. Sie stand in Verbindung mit den Volksschulen, der Unterricht wurde von Volksschullehrern und Handwerksmeistern erteilt. Schulpflichtig war die schulentlassene Jugend, wenn sie einen handwerklichen oder kaufmännischen Beruf erlernte. Der Unterricht war in den Abendstunden ein- oder zweimal wöchentlich (Abendschule). In den Klassen saßen oft Schüler aus 10 oder mehr Berufen. Mit der Spezialisierung der Berufe um die Jahrhundertwende war dieser Zustand unhaltbar geworden, doch verhinderte der 1. Weltkrieg die Weiterentwicklung. Das Jahr 1922 brachte dann eine entscheidende Reform. Es wurden spezielle Lehrer für diese Schule ausgebildet (Gewerbelehrer, Handelslehrer, Landwirtschaftslehrer). Die Schule wurde umbenannt in Berufsschule, das Fächerangebot wurde erweitert. Räumlich war die Berufsschule in Ingelheim in der Pestalozzischule untergebracht. (Ingelheim 74, S. 60)

Aus dem Jahre 1910 hat sich ein Leserbrief erhalten mit der Forderung nach einer Kleinkinderkrippe; eine Frau, die als Tagelöhnerin etwas verdienen müsse, finde nichts, wohin sie ihre noch nicht dreijährigen Kinder bringen könnte (Ingelheimer Anzeiger, 22. März 1910).

Das neue dreistöckige Krankenhaus „Ludwigstift an der Ecke Stiftstraße / Heidesheimer Straße wurde nach einem Umbau 1911 fertiggestellt. Es hatte ein Operationszimmer, einen Röntgen-Apparat sowie Gas- und Elektrolicht. Finanziert wurde es von der Gemeinde und mithilfe großzügiger Spenden u.a. der Frau von Harder und Erlangers. Die Pflegesätze betrugen damals pro Tag für Mitglieder der Ortskrankenkasse 2 Mark einschl. ärztlicher Behandlung und etwaiger Operation, für Patienten dritter Klasse ebenfalls 2 Mark, für Patienten zweiter Klasse 3,50 Mark, und für die erster Klasse (mit Extrazimmer) 5,50 Mark. Kinder bis zum achten Lebensjahr kosteten in der dritten Klasse 1,20 Mark.

Das Ludwigstift musste noch über zwei Jahrzehnte lang seinen Dienst tun, obwohl es immer weniger den gestiegenen Bedürfnissen genügen konnte, denn die Pläne für einen Neubau zerschlugen sich nach dem Krieg aufgrund der wirtschaftlichen Situation der Gemeinde immer wieder. Erst im Jahre 1939 konnte die Gemeinde das ehemalige Waisenhaus der Krieken'schen Stiftung kaufen und zu einem neuen Krankenhaus ausbauen, das freilich schon wenige Monate nach seiner Inbetriebnahme zu zwei Dritteln zu einem Kriegs-Lazarett umgewidmet wurde.


13) Freizeit, Kultur

Am 1. August 1905 wurde das Freischwimmbad Frei-Weinheim-Ingelheim mit einem Wettschwimmen eingeweiht. Der "Club der Drahtlosen", also der frühen Radiohörer, veranstaltete im August 1905 im Bahnhofsrestaurant Pitzer ein "Concert".

Auf dem Ober-Ingelheimer Kirchweihfest gab es 1906 u.a. ein "Etagenkarussell mit elektrischer Beleuchtung", einen "Cinematograph Steiner" und eine dreiundzwanzigjährige Frau mit zwei Köpfen, Rosalia Julie, die sich mit den Besuchern unterhalten und Lieder gesungen hat.

1909 begannen die ersten systematischen Ausgrabungen im Gelände der Kaiserpfalz durch Dr. Rauch, Gießen. Sie wurden 1914 durch den Krieg beendet.

Im Jahre 1910 wurde der erste Verkehrsverein für Gesamt-Ingelheim (!) gegründet, mit Mitgliedern aus den beiden Ingelheim und Frei-Weinheim. Vorsitzender wurde Fabrikant Dr. Bopp, der sich folgende Ziele gesetzt hatte:
1. Maßnahmen gegen die Schnackenplage (sic!)
2. Aufstellung von Ruhebänken in den Orten und auf Spazierwegen
3. Beseitigung des Straßenstaubes auf den Automobilstraßen durch staubbindende Mittel
4. Schaffung eines Spazierganges rund um Oberingelheim.

Am 16. März 1914 spielte Paul Hindemith bei einem Konzert in der evangelischen Kirche in Ober-Ingelheim als bewunderter Geigenkünstler.


14) Kirchen

Um die seit dem 16. Jahrhundert immer noch in drei Gruppen zersplitterten Konfessionen wenigstens auf evangelischer Seite zusammen zu schließen, förderte die großherzogliche Regierung eine Vereinigung der Lutheraner und Reformierten am 28. November 1822 zu einer "Vereinigten Evangelisch-Christlichen Kirche".

Der wachsende Wohlstand und das zahlenmäßige Anwachsen der Gemeinden im 19. Jahrhundert zeigte sich in Kirchenaus- und -neubauten. So wurde schon seit den 50er Jahren die (immer noch verkürzte) Saalkirche renoviert und bekam 1861 ihren ersten Glockenturm. In Großwinternheim wurde 1888 die beeindruckende neue evangelische Kirche in neoromanischem Stil fertig gestellt; ähnlich in Frei-Weinheim, wo 1910 die neue evangelische Kirche an der Rheinstraße ("Gustav-Adolf-Kirche") gebaut wurde.


15) Politik und Verwaltung


DasOber-Ingelheimer Rathaus wurde 1824 im klassizistischen Stil am Markt erbaut – heute schön restauriert.  Auf seinem Balkon findet jährlich zu Begin des Rotweinfestes die Krönung der Ingelheimer Rotweinkönigin statt.

Nieder-Ingelheim bekam sein neuromanisches Rathaus 1859, auch an seinem Marktplatz. In ihm finden heute Ausstellungen und die regelmäßigen Internationalen Tage statt.

Aus dem Anwachsen von Arbeitern und Angestellten gegen Ende des Jahrhunderts ergaben sich allmählich erhebliche Konflikte mit den relativ wohlhabenden Bauern und Winzern, den Weinhändlern, Geschäftsleuten und Handwerkern, die die "Roten" mit ihrem marxistisch-revolutionären Parteiprogramm misstrauisch betrachteten. Dies drückte sich auch in den Wahlergebnissen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus.

Als erste regelrechte Ortsvereine politischer Parteien wurden in Ingelheim Ortsvereine der SPD gegründet, und zwar in Nieder-Ingelheim (auch für Frei- Weinheim) wahrscheinlich 1895 und in Ober-Ingelheim 1899.

Ein Vorläufer von fest organisierten Parteien waren aber auch schon die revolutionären "demokratischen Vereine", die sich im Zuge der 48er Revolution in Rheinhessen gebildet und dem Mainzer Verein angeschlossen hatten, darunter auch Vereine in Schwabenheim und Groß-Winternheim. Dr. Martin Mohr aus Ober-Ingelheim war damals Mitglied eines provisorischen demokratischen Zentralausschusses für ganz Deutschland.

1910 siegte bei der Gemeinderatswahl in Nieder-Ingelheim die SPD mit großer Mehrheit. Die neuen Mehrheitsverhältnisse spiegelten sich auch in erbitterten Kämpfen um die Besetzung der Bürgermeisterstellen in Ober- und Nieder-Ingelheim wieder, die mit allen juristischen Mitteln ausgetragen wurden: Nach einer Wahlanfechtung 1909 und einer Neuwahl sowie erneuter (erfolgloser) Wahlanfechtung (wegen angeblich mangelnder Qualifikation Bauers) wurde endlich am 24. Mai 1910 der neue Bürgermeister in Ober-Ingelheim in sein Amt eingeführt, der von Freisinnigen und Sozialdemokraten unterstützte Karl Wilhelm Bauer. Auch in Nieder-Ingelheim gab es 1912 einen juristischen Kampf um die Wahl des neuen Bürgermeisters Leonhard Muntermann, eines früheren Volksschullehrers und damals Direktor der Winzergenossenschaft, dessen Wahl aber schließlich auch bestätigt wurde. Er löste den Bürgermeister Paul Chr. Saalwächter nach neun Dienstjahren ab, dessen repräsentatives Weingut an der Binger Straße direkt unterhalb der Winzergenossenschaft steht. Um den Dienstantritt Muntermanns zu verhindern, wurde von den Anhängern Saalwächters beim Gemeinderat der Antrag auf Einführung eines Berufsbürgermeisters gestellt, der nicht direkt vom Volk, sondern vom Gemeinderat zu wählen war, aber vergeblich.

Die Kolonialpolitik des Reiches hinterließ auch in Ingelheim Spuren, nicht nur in Presseberichten über verschiedene koloniale Ereignisse, sondern auch persönliche: Unter dem Datum 26. Juli 1902 meldete der Ingelheimer Anzeiger die Rückkehr von zwei "China-Kämpfern", die beim sog. Boxer-Aufstand eingesetzt waren, Gustav Schnell und Friedrich Esch aus Frei-Weinheim.

Da nach dem hessischen Kommunalgesetz dem Höchstbesteuerten Sitz und Stimme im betreffenden Gemeinderat zustanden, kam es 1914 zu einer juristischen Kontroverse zwischen Kommerzienrat Albert Boehringerund Freifrauvon Erlanger. Letztere bekam vom Provinzialausschuss in Mainz Recht, weil sie die nach dem Grundbesitz Höchstbesteuerte war, so wie es das Gesetz vorschrieb. Deshalb wurde Albert Boehringers Antrag abgelehnt, obwohl er insgesamt mehr (verschiedene) Steuern zahlte als Frau von Erlanger und obwohl er 200 Arbeiter beschäftigte und sie nur 25.


16) Alldeutscher Verband, Heinrich Claß und der Bismarckturm


Der um 1900 zunehmend nationalistische Geist im neuen Deutschen Reich fand auch in Ingelheim seinen Ausdruck. Im Jahre 1902 wurde von Rheinhessischen Ortsgruppen des nationalistischen und rassistischen Alldeutschen Verbandes beschlossen, auf der Waldeck zwischen Ober-Ingelheim und Gau-Algesheim in Sichtweite des Niederwald-Denkmals – wie schon in vielen anderen Orten des Reiches – einen "Bismarckturm" zu erbauen.

Engagiertester Vorkämpfer und Spendensammler für den Bau war der Mainzer Rechtsanwalt Dr. Heinrich Claß, der später durch seine nationalistisch-antisemitische Hetzschrift "Wenn ich der Kaiser wär’" (1912, sieben Auflagen bis 1918) bekannt wurde. Darin pries er die Diktatur als Allheilmittel und hetzte gegen eine "jüdische Zersetzung". Das Buch und sein Verfasser wurden auch von Hitler geschätzt.

Obwohl sich der Vorsitzende der rheinhessischen Verbandsgruppen Kommerzienrat Richard Avenarius aus Gau-Algesheim für einen Standort in Gau-Algesheim eingesetzt hatte, wurde schließlich der von der Gemeinde Ober-Ingelheim kostenlos angebotene Standort auf der Waldeck gewählt. 1907 einigte man sich auf den monumentalen Entwurf von Prof. Wilhelm Kreis in Dresden, so dass man zur Grundsteinlegung schreiten konnte. 1912 wurde der Bismarckturm mit einer nachträglich aufgesetzten Kuppel vollendet und am 12. Mai feierlich eingeweiht.

Seitdem dient er - völlig unpolitisch - als beliebtes Ausflugsziel mit herrlichem Blick ins Rhein- und Selztal oder beeindruckt in der Weihnachtszeit, farbig angestrahlt, schon von weitem als "Ingelummer Kerz" (sic).

 

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Gs, erstmals: 27.02.07; Stand:13.07.23