Autor: Hartmut Geißler
Die folgende Darstellung stützt sich einerseits auf Archivalien des Stadtarchivs (Rep. III 558a) sowie auf einen Beitrag von Tobias S. Schmuck in der Festschrift zum 125jährigen Bestehen des SMG : Das Sebastian Münster-Gymnasium als gewachsenes System, S. 24-39
Im ganzen Ingelheimer Grund hielt sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nur eine einzige private weiterführende Schule für längere Zeit, nämlich die "Höhere Bürgerschule" in Ober-Ingelheim.
Nachdem sich seit den 1860er Jahren drei Pfarrer und andere Bürger um eine solche Schule bemüht hatten, die aber alle nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurden, konnte am 1. Mai 1890 schließlich auf Initiative eines Kommittees unter dem Vorsitz des späteren Bürgermeisters Schätzel die "Höhere Bürgerschule" in Ober-Ingelheim gegründet werden.
Sie war nun eine öffentliche Lehranstalt unter staatlicher Aufsicht, orientiert an den Lehrplänen der Realschulen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt, mit anfangs 47 Schülern und fünf Lehrkräften unter einem Schulleiter ("Dirigent"), führte aber bis 1924 nur bis zur 9. Klasse. Auch eine seit 1896 in Ober-Ingelheim existierende "Höhere Töchterschule" wurde mit dieser Schule vereinigt, so dass die Schule von der Zeit an koedukativ war und blieb.
Im Stadtarchiv gibt es eine Statistik über die Schülerzusammensetzung des ersten Schuljahres 1890/91 (mit handschriftliche Schülerliste):
1. Die Schüler kamen aus den Orten: Ober-Ingelheim (32), Nieder-Ingelheim (12), Großwinternheim (2), Frei-Weinheim (1).
Dass die überwiegende Anzahl der Schüler in Ober-Ingelheim selbst wohnte, dem Standort der Schule, darf nicht verwundern. Außer dieser räumlichen Nähe mag aber dabei auch die soziale Zusammensetzung der verschiedenen Orte eine Rolle gespielt haben, denn der Schwerpunkt der Bevölkerungsgruppen, die diese Schule besuchten, die Händler und Handwerker, lag damals in Ober-Ingelheim. Oder anders herum: Die Schule wurde dort gegründet, wo die größte Nachfrage herrschte. Außerdem gab es damals noch nicht die Selztabahn, so dass weiter entfernte Schüler hätten weit laufen müssen.
2. Konfessionen: Evangelisch (41), katholisch (3), israelitisch (3), freireligiös (1)
3. Beruf des Vaters (alphabetisch):
Arzt 1, Bäcker 2, Bahnbediensteter 1, Fabrikant (Ott, Neumühle!) 1, Gastwirt 2, Gendarm 1, Gerichtsdiener 1, Gerichtsschreiber 1, Handwerker 1, Hauptmann 1, Kaufmann 5, Küfer 1, Lehrer 1, Landwirt 9, Metzger 1, Müller 1, Notar 1, Pfarrer 1, Pflasterer 1, Sattler 1, Schneider 1, Schreiner 1, Schumacher 1, Tüncher 1, Weinhändler 4.
Hochschulberufe und ähnliche waren mit Arzt (1), Pfarrer (1), Notar (1), Lehrern (1) vertreten.
Landwirte wiesen 9 Nennungen auf und liegen weit an der Spitze, Kaufleute (5) und Weinhändler (4) erreichten zusammen dieselbe Anzahl.
An Handwerkern und Geschäftsleuten wurden genannt „Handwerker“ (1), Küfer (1), Schneider (1), Schreiner (2), Schumacher (1), Sattler (1), Tüncher (1), Bäcker(2), Metzger (1), Müller (1), Gastwirte (2). Den „Pflasterer“ wird man wohl eher der Gruppe der Arbeiter als der der Handwerker zurechnen müssen.
Im Dienstleistungsbereich tätig waren Bahnbediensteter (1), Gastwirte (2), Gerichtsdiener (1) und Gerichtsschreiber (1).
1 Gendarm und 1 Hauptmann waren im staatlichen Sicherheitsbereich tätig.
Ein „Fabrikant“ war gleichfalls mit seinem Sohn vertreten, Christian Ott von der Schwärzefabrik in der Neumühle, dessen Sohn anfangs bis zum Bau des Zuckerlottchens 1904 einen weiten Weg bis zu seiner Schule laufen musste.
4. Abgang - wohin?
In der letzten Spalte der rechten Seite wurde das Abgangsziel eingetragen, wenn es zu ermitteln war. Nicht mitgeteilt wurde es bei 8 Schülern. Von den anderen gingen ...
- 2 in das väterliche Geschäft
- 1 in die Ausbildung bei Boehringer
- 5 in die Realschule Bingen
- 6 in die Realschule Mainz
- 5 in das Realgymnasium Mainz
- 7 in die "Untersekunda" des Gymnasiums Mainz
- 2 in Mainzer Privatschulen
- 2 in das Gymnasium in Darmstadt
- 1 in das Gymnasium in Heidelberg
- 1 zog weg nach London
Zusammenfassung: In die Höhere Bürgerschule schickten ganz überwiegend Familien des bürgerlichen Mittelstandes ihre Kinder; Akademiker waren in Ingelheim noch selten, Arbeiter nach einem halben Jahrhundert Industrialisierung zwar sehr zahlreich, besonders in Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim. Aber Arbeiter-Familien schickten Ihre Kinder in aller Regel nur auf die Volksschulen, weil sie sich die Kosten eines längeren Schulbesuches nicht leisten konnten und die Kinder so bald wie möglich mit dazu verdienen mussten.
Von den Schülern dieses ersten Jahrganges gingen die meisten anschließend auf weiterführende Schulen, so auf Gymnasien in Mainz, Darmstadt und Heidelberg. Eine solche Schullaufbahn war auch das Hauptziel der darauf vorbereitenden Höheren Bürgerschule Ober-Ingelheim.
Seit 1897 war diese neue Schule auch in einem eigenen Gebäude untergebracht, das sich aber schon bald als zu klein erwies: in der Bahnhofstraße 119. Man erkennt den späteren Anbau rechts.
Finanziell war die Schule bis 1919 auf Schulgeld der Eltern, auf Zuschüsse der Gemeinden und auf Spenden angewiesen, z.B. von Albert Boehringer.
Wegen des gewachsenen Schüleranteils aus umliegende Orten wurde deshalb 1909 auch die Gemeinde Nieder-Ingelheim über ihren Bürgermeister Saalwächter vom Rektor Schäfer um Zuschüsse gebeten, die diese auch bewilligte. Die Schulleitung beabsichtigte damals, die Schule zur Militärberechtigung auszubauen, also noch ein 10. Schuljahr anzufügen, um die sog. Mittlere Reife erteilen zu können. Diese hieß damals offiziell wissenschaftliche Befähigung für den Einjährig-Freiwilligen Militärdienst.
Darauf wies Rektor Schäfer in einem erneuten Bittschreiben vom 30. April 1910 an die Gemeinde von Nieder-Ingelheim hin. Als Begründung für seine Bitte nannte er die angewachsenen Schülerzahlen aus Nieder-Ingelheim, nämlich von den 10 Knaben und Mädchen am Ende des Schuljahres 1908/09 auf 25 Schüler (12 Jungen und 13 Mädchen) im Schuljahr 1909/10 von 92 Schülern insgesamt. Für das laufende Schuljahr 1910/11 rechnete er mit einem weiteren Anstieg auf etwa 100 bei wiederum 25 Schülern aus Nieder-Ingelheim, also etwa einem Viertel.
Auch diese Bitte der Schulleitung erfüllte der Nieder-Ingelheimer Gemeinderat. Das vierseitige Bittschreiben schickte Saalwächter an Albert Boehringer mit der Anfrage, ob dieser wie im vorherigen Jahr auch für 1910 einen Zuschuss an die Gemeinde Nieder-Ingelheim zu deren Finanzbeitrag für die Höhere Bürgerschule in Ober-Ingelheim gewähren würde.
Dieser sagte für fünf Jahre einen jährlichen Betrag von 300 Mark zu, knüpfte diese Zusage aber an folgende Bedingungen:
1. Die Erweiterung zur Mittleren Reife durch Erklärungen beider Ingelheimer Gemeinden
2. Die Gemeinde Nieder-Ingelheim sollte ihre Zuschüsse im Verhältnis zur Schülerzahl leisten, aber maximal bis zur Hälfte der jährlich zu leistenden Zuschüssen.
3. Die Schule sollte sich danach Höhere Bürgerschule der Gemeinden Ober- und Nieder-Ingelheim nennen.
Er war jedoch skeptisch, ob diese Bedingungen erfüllbar seien. Sie wurden auch nicht realisiert, das 10. Schuljahr erhielt die Schule erst 1924. Was aus weiteren Zuschüssen Albert Boehringers wurde, war den Akten des Stadtarchivs nicht zu entnehmen.
1910 baute die Gemeinde ein beachtliches Wohnhaus für den Rektor der Höheren Bürgerschule an der Ecke Schillerstraße/Grundstraße, an dem man ablesen kann, wie sehr sich der Wohlstand auch der Lehrer im Verlauf des 19. Jahrhunderts vergrößert hat:
Das Schuljahr 1911/12 aus dem Jahresbericht (vollständige Kopie):
1. Die Schüler und Schülerinnen (57+32) kamen aus den Orten:
Ober-Ingelheim (45); andere Orte: NI (22), GW (7), Stadecken (5), FW (4), Schwabenheim (anfangs 3, dann 1), Jugenheim (2), Partenheim (1), Ober-Hilbersheim (1)
Das Übergewicht Ober-Ingelheims blieb also bestehen, der Anteil der Kinder aus Nieder-Ingelheim und Frei-Weinheim ist gestiegen, und dank des Baues der Selztalbahn konnten nun auch Kinder der Selztalgemeinden die Höhere Bürgerschule besuchen. Den beschwerlichsten Weg hatte wohl der Schüler Ernst Linck in der Quinta (= 6. Klasse) aus Ober-Hilbersheim, der wahrscheinlich von seinem Elternhaus zuerst viereinhalb Kilometer nach Jugenheim zur Eisenbahn laufen musste und nachmittags zurück.
2. Konfessionen: Evangelisch (52), katholisch (14), israelitisch (20), sonstige, wahrscheinlich freireligiös (3).
Das Übergewicht der evangelischen Schüler blieb erhalten; auffällig ist aber, dass mittlerweile erheblich mehr jüdische Kinder in der Höheren Bürgerschule angemeldet sind als katholische.
3. Die Berufe der Väter sind in dieser Statistik nicht erfasst.
Fortsetzung ihrer Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert
Im Jahre 1924 wurde sie erweitert zur vollen Realschule bis Klasse 10 ("Reformrealgymnasium").
In dieser Zeit, vor allem nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, hatte sie ständig mit Finanzproblemen zu kämpfen.
In der NS-Zeit wurde sie 1938 umbenannt in "Oberschule für Jungen (1-5)", obwohl sie weiterhin auch von Mädchen besucht wurde. Den jüdischen Schülern, die bis dahin in erheblicher Anzahl (zu etwa 11%) diese Schule besucht hatten, wurde ein Neuzugang nun verwehrt.
Nach ihrer Neueröffnung 1945 am 1. Oktober durch die französische Militärregierung hatte sie 6 Klassen mit 184 Schülern und litt noch jahrelang unter großer Raumnot.
Sie wurde aber zugleich zur Vollanstalt ausgebaut, das heißt, zu einem Gymnasium mit Oberstufe, anfänglich noch mit Zentralabitur nach französischem Vorbild. 1951 erhielt sie einen Namen nach dem größten Sohn Ingelheims, dem Kosmographen Sebastian Münster aus dem 16. Jahrhundert: "Sebastian-Münster-Gymnasium".
Von dieser Geschichte rührt der heute noch oft gebrauchte Name des Gebäudes her: "Altes Gymnasium". So nannte man es, als das Sebastian-Münster-Gymnasium endlich 1956-1960 in neue, größere Gebäude an der Dörrwiese umziehen konnte, wo es sich mit 1800 Schülern (Stand 2015) zu einem der größten Gymnasien von Rheinland-Pfalz entwickelt hat. In Anbetracht seiner Geschichte müsste man dieses Gebäude aber eher "alte Realschule" nennen.
Dieses alte Gebäude an der Ober-Ingelheimer Bahnhofstraße ist seitdem zu verschiedenen Zwecken, so z. B. für Volkshochschulkurse, benutzt worden und hat in jüngster Zeit einen modernen Anbau erhalten, der u.a. das Mütter- und Familienzentrum (MütZe e.V.) beherbergt.