Autor: Hartmut Geißler
(stark überarbeitete und ergänzte Neufassung von 2017)
nach Hesse, Rheinhessen, S. 127 sowie 285 - 333
und dem handschriftlichen Protokoll der Kreisvisitation Ober-Ingelheim 1835
ausführlich in Geißler, Hartmut: Zur Ingelheimer Volksschulgeschichte 1816-1914, in: BIG 56, S. 107-218 (dort auch weiterführende Literatur)
Das konfessionelle Hin und Her der Kurpfälzer Zeit mussten auch die Schulen mitmachen, ihre Lehrer und ihr Unterricht, denn die Schulräume, das Lehrpersonal und seine Einkommen waren an die jeweilige Kirche gebunden. Unterricht im Mittelalter gehörte nämlich zu den Aufgaben der Pfarrer und Vikare (Altaristen). Also bildeten sich die ersten Schulgebäude aus Altaristenhäusern neben den Kirchen, das heißt ...
- in Nieder-Ingelheim neben der Pfarrkirche St. Remigius
- in Ober-Ingelheim neben der Pfarrkirche St. Wigbert, der heutigen Burgkirche
Was das schlimme 17. Jahrhundert mit seinen Kriegen und Pestwellen, mit seinen konfessionell verschiedenen Besatzern für den Schulunterricht bedeutete, mag man sich kaum ausmalen.
Nachdem die Simultaneums-Regelung von 1698 keinen Konfessionsfrieden gebracht hatte, verteilte die Kurpfälzer Regierung 1705 auf preußischen Druck hin das Kirchenvermögen in einem komplizierten Verfahren unter den beiden Konfessionen der Katholiken und Reformierten ("Pfälzer Kirchenteilung"). Die wenigen Lutheraner mussten für sich selbst sorgen.
Dabei fiel
- die Remigiuskirchemit der Schule an die Katholiken und
- die ehemalige Wigbert-Kirche (jetzt Burgkirche) mit der Schule an die Reformierten.
Daher mussten sich die Reformierten in Nieder-Ingelheim die Ruine der Saalkirche (teilweise) wieder aufbauen und eine eigene Schule in der Nähe errichten, was wohl erst 1779 möglich war: auf dem Grundstück des heutigen Museums (siehe Nieder-Ingelheimer Schulen).
Die früheste eigene Schule der Ober-Ingelheimer Katholiken muss nach dem ersten erhaltenen Feuerkataster Ober-Ingelheims in der Nähe der (katholischen) Adelshöfe in der unteren Stiegelgasse gestanden haben - wo genau, ist noch unklar (siehe Geißler, Volksschulgeschichte, S. 158/59). Sie wurde 1824 abgerissen zugunsten eines Neubaues im Oberen Schenkgarten. Vorher war sie nach der Kirchenteilung notdürftig in einem ehemaligen Fest-, Tanz- und Schießhaus an der Ringgasse untergebracht.
In französischer Zeit (1797-1813) wurde der meiste Kirchenbesitz enteignet und versteigert. Dadurch fiel auch eine großer Teil der Schuleinnahmen fort. Der Schulunterricht wurden nun als weltliche Gemeinschaftsschule den Kommunen übertragen, die aber durch die Kriege Napoleons alle so stark verschuldet waren, dass sie weder Schulhäuser neu bauen noch die Lehrer einigermaßen bezahlen konnten. Siehe die Situation in Frei-Weinheim!
Die Situation des rheinhessischen Schulwesens war also miserabel, als die neue Provinz 1816 vom Großherzogtum Hessen-Darmstadt übernommen wurde.
Verantwortlich für die rheinhessische Schulpolitik wurde Wilhelm Hesse (damals auch "Heße" gedruckt), der 1816 in der Mainzer Provinzregierung Assessor für Gemeindehaushalte, Schulwesen, Straßenbau und Landwirtschaft wurde, 1817 Regierungskommissar für Rheinhessen unter dem Präsidenten der Mainzer Provinzialregierung, Freiherrn Ludwig von Lichtenberg, der ihm offenbar voll vertraute; 1818 wurde Hesse Regierungsrat und 1822, nach der Vereinigung der Reformierten mit den Lutheranern, Mitglied des neu gegründeten evangelischen Kirchenrats Rheinhessen.
Aus seinem Rechenschaftsbericht von 1835 (Hesse), als er aus Mainz nach Darmstadt versetzt wurde, sind die folgenden Passagen entnommen, auch wenn man bei manchen seiner "Erfolgsberichte" vielleicht kleine Abstriche machen sollte.
Die Situation der Schulen und der Lehrer zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Den Zustand der Schulhäuser bei seinem Dienstantritt 1816 beschreibt Hesse wie folgt:
Nur wenige Schulhäuser waren von erträglicher Beschaffenheit. Fast alle hatten kaum Raum für den vierten Theil der schulfähigen Kinder; Bänke, Tische waren in unbrauchbarem Zustande, die Lehrer mit oft sehr zahlreichen Familien auf ein kleines Stübchen mit einer Kammer beschränkt. Oft fand man in dem Schulzimmer zwei Betten stehen. Der Raum für zwei Kühe und das nöthige Futter fehlte häufig. Selbst die Abtritte gehörten zu den seltenen Einrichtungen in diesen Häusern. (S. 127)
Schulneubauten und eine allgemeine Verbesserung der Unterrichtssituation waren deshalb politische Schwerpunkte der rheinhessischen Verwaltung in den ersten zwei Jahrzehnten. Zur Finanzierung wurde 1819 ein hessischer Provinzial-, Kirchen- und Schulhausfonds angelegt, aus dem die Gemeinden Zuschüsse beantragen konnten.
Die Neubauten und die Lebensbedingungen der Lehrer unter seiner Verwaltung schildert er so (S. 294, 295 und 303):
Sowohl die Schulhäuser als die dazu gehörigen Nebengebäude wurden alle von Stein erbaut, die Fundamente tief und stark gemacht, um, wenn bei zunehmender Bevölkerung die einstöckigen Häuser in zweistöckige, und die zweistöckigen in dreistöckige bei der dann nöthigen Ausdehnung der Schulanstalten verwandelt werden müssen, diese Bauten mit dem möglichst geringsten Kostenaufwand ausführen zu können. Sie sind mit solid gewölbten Kellern versehen.
Wo es die Lokalität nur irgend gestattete, suchte man einen Bauplatz von dem Geräusche der Straße etwas entfernt aufzufinden, und zwar von der Art, daß eine Erweiterung des Hauses mittels Anbau für die Folge bedingt wurde.
Die Hauptrücksicht wurde stets dem Schulzimmer (d. h. dem "Klassensaal"; Gs) gewidmet und zwar in der Weise, daß dasselbe gewöhnlich von drei Seiten Fenster erhielt, daß auf ein Kind sieben Fuß Raum gerechnet, und eine Zimmerhöhe von zwölf Fuß mindestens angenommen wurde.
In einem einstöckigen Schulhause wurde der Schulsaal auf der einen Seite der Hausflur, auf der anderen zwei heitzbare Zimmer mit Küche und gewöhnlich mit Küchenkammer angelegt, und auf der einen Giebelseite des Daches ein Zimmer mit Alkoven eingerichtet.
Die Oeconomiegebäude erhielten einen Stall für zwei bis drei Kühe, den nöthigen Schweinstall, Räume zur Aufbewahrung der Felderzeugnisse nach der Größe des Schulguts berechnet, und zugleich wurden für hundert Kinder wenigstens drei bis vier gehörig abgesonderte Abtritte angelegt.
In zweistöckigen größern Schulhäusern wurde im untern Stock die Wohnung des Lehrers, bestehend aus zwei bis drei heitzbaren Zimmern nebst Küche und Kammer und einer Wohnstube mit Kammer für den Gehülfen, welcher als unverheiratheter junger Anfänger die Elementarklasse zu führen hat, im obern Stock zwei gleichgroße Schulsäle, den ganzen Stock einnehmend, eingerichtet.
Für die heutigen Ingelheimer Orte gibt Hesse folgende Schulhaus-Neu- oder Umbauten bis zum Jahre 1834 an (S. 288, 289):
- Niederingelheim: zwei zweistöckige Bauten, 4 Säle (die katholische und die evangelische Schule)
- Oberingelheim: zwei einstöckige Bauten, 2 Säle (ebenso)
- Freiweinheim: ein einstöckiger Bau, 1 Saal (kath. bzw. Gemeinschaftsschule)
- Großwinternheim: ein zweistöckiger Bau, 1 Saal (evangelische Schule)
Für Sporkenheim wurde bis dahin noch keine Schule gebaut, und ihr Bau verzögerte sich noch lange.
Wie ein solches Schulgelände in der Regel aussah, kann man den normierten Bauplänen des Mainzer Landesbaumeisters Schneider für die einstöckige evangelische Schule im Neuweg (1825) entnehmen, die im Ingelheimer Stadtarchiv erhalten sind (StA Rep II 285).
Die Legende des Grundrisses:
A = Hausgang, B = Schulsaal, C = Wohnstube (des Lehrers), D = Küche, E = Hofraum, F = Holzbehälter (zum Heizen), G = "Kühstall", H H = Schweineställe, I = Gang, K = „Abtritte“, M = (Schul-) Garten, N = Feld, zum Schulhaus gehörig (oberhalb dahinter, nicht mit abgebildet); zur Vergrößerung anklicken!
Das bedeutet, dass die damaligen Schulen stets eine Kombination aus einem Unterrichtsraum und einer Lehrerwohnung bildeten und dass die Lehrer immer auch eine kleine Landwirtschaft auf dem "Schulgut" betreiben mussten, weil ihre Vergütung allein zum Leben nicht ausreichte.
Einen zweiten Lehrer an einer Schule gab es nur in der Form eines "Lehrergehülfen", eines Junglehrers, der nur die Anfangsklasse unterrichten durfte, unverheiratet sein musste und nur eine Kammer bei der Lehrerwohnung zugewiesen bekam, meist im Dachgeschoss. Oft war es ein angelernter Sohn des Lehrers.
Doppelstöckige Schulhäuser wie die neue evangelische Schule von 1828 neben dem Museum waren eher die Ausnahme. Zur Vergrößerung anklicken!
Lehreraus- und -weiterbildung
Während es bis dahin keine staatliche Lehrerausbildung gegeben hatte, wurden nun zwei Landes-Schullehrerseminare im Großherzogtum geschaffen, eins in Friedberg (evangelisch) und eins in Bensheim (katholisch). Der Staat übernahm nun - zusammen mit den Kirchen - die Schulaufsicht. Staatlich geprüft wurden die neuen Lehrer für Rheinhessen durch eine Prüfungskommission in Mainz.
Prüfungsfächer waren:
Biblische Geschichte
Deutsche Sprache
Geschichte
Erdbeschreibung
Naturgeschichte und Naturlehre
Größenlehre (die vier Grundrechenarten, Brüche, Dreisatz, Gesellschaftsrechnung)
Formenlehre (Geometrie)
Schönschreiben
Musik
(Sport kam erst in der zweiten Jahrhunderthälfte hinzu.)
Hesse schrieb:
Selbst die hoffnungsvollsten Schulmänner wurden mehrere Jahre provisorisch angestellt, um hierdurch die Gewißheit für ihre Tüchtigkeit im Amte so weit als möglich zu erlangen.
Aeltere Schulmänner, welche nur einigen guten Willen für ihre Vervollkommnung ihrer früheren, ohne ihre Schuld mangelhaften Ausbildung zeigten, wurden möglichst unterstützt und gehoben; dagegen andere, bei welchen jede Hoffnung dieser Art verschwunden war, so weit es die Umstände gestatten, vom Amte mit Bewilligung von Pensionen entfernt. (Hesse S. 300)
Er erwähnt auch eine "Lesegesellschaft", die seit 1824 in Mainz bestand (wahrscheinlich durch ihn selbst gegründet ), mit 5.000 Bänden, die allen Lehrern zu ihrer Fortbildung zur Verfügung stand. Die Schulen wurden regelmäßig besucht und auf die Qualität des Unterrichts hin kontrolliert:
Kein Lehrer konnte auch nur geringe Zeit einen schlechten Zustand seiner Schule geheim halten. Bei den Schulprüfungen waren Förderung wahrer christlicher Bildung und stufenweise, selbstthätige Geistes- und Gemüthsentwickelung die Hauptzwecke, auf welche die Lehrer stets hingewiesen wurden. (S. 301)
Das Einkommen fast aller Lehrer war bei der Vereinigung Rheinhessens mit dem Großherzogthum Hessen äußerst gering. ... Dabei mußten die Lehrer das Schulgeld, Glockenbrod und andere unangenehme Naturaleinnahmen selbst erheben, wodurch sie in beständige widerwärtige Berührung mit den Gemeindegliedern sich versetzt sahen. Die Naturaleinnahmen wurden durch eine allgemeine Verfügung in einer für die Lehrer vortheilhaften Weise in Geld verwandelt, und deren Erhebung und Bezahlung in monatliche Raten an den Lehrer verordnet. ... Hatten Lehrer die Glöcknerei zu versehen, so versuchte man, wo es nur geschehen konnte, diese Beschäftigung ohne Schmälerung des Diensteinkommens vom Schuldienste zu trennen. ... (S. 303)
"Schulgeld, Glockenbrod und andere unagnehme Naturaleinnahmen": Geld und Naturaleinnahmen (z.B. Brot, Holz zum Heizen), die in manchen Orten Rheinhessens noch im 18. Jahrhundert von den Lehrern selbst eingesammelt werden mussten. Sie wurden nun in Geldzahlungen umgewandelt, die der Lehrer über die Gemeinde ausgezahlt bekam.
Die didaktisch-methodischen Bemühungen um einen besseren Unterricht stellt er auf den Seiten 305 bis 308 vor.
Schulvorstände und Schulordnung
Wie es Kirchenvorstände gab, existierten auch Schulvorstände aus Bürgermeister, Pfarrer und Eltern. Die konkrete Kontrolle der Ortsschulen sollte seit 1824 durch den Geistlichen und den Bürgermeister des Ortes durchgeführt werden.
Im Jahre 1827 erschien im Regierungsblatt die erste "landesherrliche allgemeine Schulordnung", die in Rheinhessen 1828 in Kraft trat (ausführlich bei Geißler, Volksschulgeschichte, S. 118-125).
Darin wurden folgende Punkte geregelt:
a) Die "Eigenschaften der Schullehrer": Er (nur in der männlichen Form!) soll die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen, Bildung des Geistes, einen sittlichen Charakter, frühestens nach dem 20. Lebensjahr unterrichten dürfen und einen gesunden Körperbau besitzen. Außer kirchlichen Ämtern durfte ein Lehrer keine Nebentätigkeiten ausüben.
b) Bezahlung der Lehrer: entweder aus Schulfonds (falls vorhanden) oder von der Gemeinde; hinzu kam das Schulgeld und "Holzgeld" (zum Heizen), das die Eltern zahlen mussten, das aber nicht mehr vom Lehrer selbst eingesammelt werden sollte, sondern vom Gemeinde-Ortseinnehmer.
c) Bauvorschriften für Schulhäuser, Vorschriften für die "Schulgeräthschaften"
d) Schulbesuchsdauer der Kinder (bis zur Konfirmation), Maßnahmen bei Schulversäumnissen
e) Verpflichtender Schulbesuch jüdischer Kinder (entweder in einer eigenen Schule nach denselben Vorschriften oder in einer christlichen Schule ihrer Wahl, mit eigenem Religionsunterricht)
f) "Lehrgegenstände", die in "notwendige" und in "bedingt notwendige" eingeteilt wurden; notwendig waren: Religionslehre mit biblischer Geschichte, richtiges Lesen, Recht- und Schön-Schreiben, Rechnen und Kopfrechnen, muttersprachlicher Unterricht und Gesang; "bedingt notwendig": Erdbeschreibung, vaterländische Geschichte, Musik, Landwirtschaftslehre, Einiges aus der Naturlehre und Naturgeschichte und die Anfangsgründe der Formenlehre
g) Unterrichtszeiten: Der früher fast ausschließlich erteilte Winterunterricht sollte nun verpflichtend durch eine "Sommerschule" ergänzt werden, also Unterricht auch im Sommer, wenn auch durch lange Ferien unterbrochen (gegen den Widerstand vieler bäuerlicher Eltern).
h) Schulaufsicht durch Ortsgeistliche, Bürgermeister und staatliche Schulinspektoren mit geregelten Unterrichtsbesuchen
i) Schulzucht mit Prüfungen, Belohnungen und Strafmöglichkeiten
Gemeindeschulen und Schulstreit
Um die Schülerzahlen der verschiedenen Konfessionen auszugleichen und durch eine bessere Verteilung der Kinder auf die Schulen auch die Kosten für die Gemeinden zu senken, setzte sich Hesse stark für die "Gemeindeschule" ein, in der die Kinder konfessionsübergreifend zusammen unterrichtet werden sollten, mit getrenntem Relgionsunterricht (Simultanschule). Diese Schulpolitik war jedoch jahrzentelang umstritten, denn besonders die Katholische Kirche mit ihren Gemeinden wehrte sich heftig dagegen. Dieser Schulstreit kann hier nicht ausführlich dargestellt werden (s. BIG 56).
Durch die Einführung solcher "Gemeindeschulen" konnten in Rheinhessen anfangs viele kleinere Konfessionsschulen geschlossen werden, so z. B. in Frei-Weinheim, wo die evangelische Gemeinde zu finanzschwach war, um einen eigenen Lehrer bezahlen zu können. Deshalb wurde dort 1829 eine Gemeindeschule eingeführt, und zwar in der Form, dass die evangelischen Kinder (etwa ein Drittel der Gesamtschülerzahl) auch in die katholische Schule gingen (mit eigenem Religionsunterricht, versteht sich). 1867 wurde diese Schulform aber auf Drängen der Katholiken wieder aufgelöst, bis sie im Zuge einer neuen Darmstädter Schulpolitik nach der Reichseinigung 1875 in einem Neubau erneut eingerichtet wurde. Hesses Versuch, die Gemeindeschule 1831-33 auch in Großwinternheim durchzusetzen, scheiterte (bis 1875) am Widerstand der katholischen Kirchengemeinde.
Auch in Ober- und Nieder-Ingelheim wurden Gemeindeschulen erst nach dem neuen Schulgesetz von 1875 eingerichtet.
Ingelheimer Lehrer, Schülerzahlen, Schularten und Unterrichtsqualität
Zu den Lehrern und den ihnen zugeordneten Schülern in Ober-Ingelheim gibt das Protokoll der Kreisvisitation von 1835 an:
Schullehrer drey - wovon zwey evangelische Namens Johann Müller, seit 1824 hier, 34 Jahr alt, und Peter Wenzel 23 Jahren alt Schulgehilfe, welche beide zusammen 326 Kinder unterrichten, letzterer ist seit 1832 angestellt, ein katholischer Namens Franz Kamb 33 Jahren alt ist seit 1826 angestellt und unterrichtet 93 Kinder.
Diese großen Schülergruppen konnten natürlich nicht alle gleichzeitig in einem Raum unterrichtet werden, sondern sie wurden in Altersgruppen aufgeteilt, die zu unterschiedlichen Zeiten unterrichtet wurden. Siehe Schülerstatistiken NI, Spo, NW
Hesse nennt ähnliche Schülerzahlen für Ober-Ingelheim (S. 328) im Zusammenhang mit den Überlegungen, wo die Unterrichtssituation durch gleichmäßigere Verteilung der Schüler in Gemeindeschulen verbessert werden könnte:
In Oberingelheim werden 329 Kinder in zwei evangelischen und 102 in einer katholischen Schule unterrichtet. Hier ist die Errichtung einer dritten evangelischen Schule nothwendig. Noch zweckmäßiger würde die Einführung einer Gemeindeschule mit vier selbständigen Abtheilungen für den Unterricht der Kinder seyn.
Die Errichtung einer neuen "Schule" meint vordergründig kein Schulgebäude, sondern die Teilung der Schülerzahlen, verbunden mit der Einstellung eines weiteren Lehrers, was aber oft mit der Errichtung eines neuen Schulgebäudes verbunden war, falls das alte nicht aufgestockt werden konnte. Denn wenn damals das Wort "Schule" verwendet wurde, dann ist in der Regel eine mehr oder minder große Schülergruppe mit ihrem Lehrer gemeint. So konnten nach dem damaligen Sprachgebrauch durchaus zwei "Schulen" in einem einzigen, aber zweistöckigen Schulgebäude untergebracht sein. Es blieb jedoch sowohl in Ober- als auch in Nieder-Ingelheim bis zum neuen Schulgesetz von 1875 bei getrennten Konfessionsschulen.
Der Unterricht für die 93 (bzw. 102) katholischen Kinder konnte natürlich nicht gleichzeitig in einem einzigen Raum des einstöckigen Baues stattfinden, sondern zu verschiedenen Zeiten in Alters- "Abteilungen". Und der Unterricht für die 326 (bzw. 329) evangelischen (zusätzlich noch für die jüdischen; s.u.) Kinder war auf die zwei vorhandenen Gebäude verteilt, ein neues im Neuweg für die älteren Kinder und das alte an der Kirche für die jüngeren.
Im Durchschnitt lag die Schülerzahl pro Lehrer und "Schule" bei 93 (Hesse S. 324). Er meint dazu:
Nach hinreichend bewährten Erfahrungen gewinnt eine Schule von 80 Kindern bei dem Unterrichte mehr, als wenn die Schule nur 30 bis 40 zählt. Ist eine Schule über 130 bis 140 Kinder stark, so ist es zweckmäßig, sie in zwei selbstständige Schulen nach dem Alter der Kinder zu teilen. (Hesse S. 309; "Schule" auch hier = Schülergruppe mit ihrem Lehrer).
Ferner vermerkt das Protokoll, dass diejüdischen Schüler Ober-Ingelheims die evangelische Schule besuchen, aber einen eigenen privaten Religionslehrer haben (Anselm Ganzfeld).
Hesses Einstufung der Schulen nach "gut", "mittelmäßig" und "schlecht" (Stand 1819 bzw. 1834)
Um die Fortschritte (auch) seiner rheinhessischen Schulpolitik zu dokumentieren, stellte Hesse einen Vergleich von guten, mittelmäßigen und schlechten Schulen an, und zwar zu den Stichjahren 1819 und 1834.
Als "gut" wurde eine Schule eingestuft, wenn ihre Schüler bis zum 13. Lebensjahr fließend lesen und die vier Grundrechenarten sowie den Dreisatz ("Regel-de-Tri") anwenden konnten, wenn sie imstande waren, leichte Sätze ziemlich fehlerfrei und leserlich zu schreiben, eine Kirchenmelodie rein zu singen, die Hauptlehren des Christentums nach den verschiedenen Katechismen zu kennen und einige Aussprüche der Heiligen Schrift auf Lebensverhältnisse anzuwenden.
Schulen, die Schüler mit weniger Fähigkeiten entließen, die aber doch notdürftig lesen, schreiben und rechnen konnten, erhielten die Bezeichnung "mittelmäßig".
"Schlecht" waren Schulen, deren Abgänger weder lesen, noch schreiben konnten und in welchen die christliche Religionsbildung nur in dem stupiden Auswendiglernen einiger Sätze des Christentums bestand. Diese Anforderungen sind in den folgenden Jahren angehoben worden (Hesse S. 314 ff.).
1819 wurde der Unterricht der Schüler des Kantons Oberingelheim folgendermaßen eingestuft:
- als gut für 171 Kinder
- als mittelmäßig für 796 Kinder
- als schlecht für 1433 Kinder
bzw. 1834
- als gut für 2538 Kinder
- als mittelmäßig für 380 Kinder
- als schlecht für 300 Kinder
Hesse besaß zwar die Unterlagen für einzelnen Schulen, hat die Statistik aber wohlweislich nicht weiter aufgeschlüsselt.
Dass Unterrichtsqualität zu allen Zeiten von mehreren Faktoren abhängig war und ist, kann man sich leicht vorstellen. Dazu gehörten sicherlich die Lehrerpersönlichkeit, seine Ausbildung, aber auch die materielle Lage des Lehrers, die ihn u.U. Unterricht ausfallen ließ, weil er in seinem Schulgut dringender für seine Nahrung sorgen musste, weil seine Trunksucht (aus Verzweiflung?) den Unterricht unmöglich oder miserabel machte (damals wohl relativ häufig), aber auch die Höhe der Bezahlung, die sich auf die Qualität der in Frage kommenden Lehrer auswirkt; siehe Sporkenheim.
Lehrerbezahlung
Zur Situation der Lehrer im 19. Jahrhundert passt das bekannte halb spöttische, halb mitleidige Volkslied vom "armen Dorfschulmeisterlein" eines unbekannten Autors, das in vielen Varianten überliefert ist; hier aus: www.volksliederarchiv.de/text766.html (14.01.08).
In einem Dorf im Schwabenland,
da lebt, uns allen wohlbekannt, wohlbekannt,
da wohnt in einem Häuslein klein
das arme Dorfschulmeisterlein,
da wohnt in einem Häuslein klein
das arme Dorfschulmeisterlein.
Des Sonntags ist er Organist,
des Montags fährt er seinen Mist,
des Dienstags hütet er die Schwein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Des Mittwochs fährt er in die Stadt
und kauft, was er zu kaufen hat,
´nen halben Hering kauft er ein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Des Donnerstags geht er in die Schul
und legt die Buben übern Stuhl.
Er haut solange bis sie schrein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Und wenn im Dorfe Hochzeit ist,
dann könnt ihr sehen, wie er frisst.
Was er nicht frisst, das steckt er ein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Und wird im Dorf ein Kind getauft,
dann könnt ihr sehen, wie er sauft.
Elf Halbe schüttet er sich ein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Und wird im Dorf ein Schwein geschlacht´,
dann könnt ihr sehen, wie er lacht.
Die größte Wurst ist ihm zu klein,
dem armen Dorfschulmeisterlein...
Und wenn´s im Dorfe einmal brennt,
dann könnt ihr sehen, wie er rennt.
Die nächste Ecke rennt er ein,
das arme Dorfschulmeisterlein...
Den Lehrern in Ingelheim dürfte es kaum besser gegangen sein. Hesse führt als einen Erfolg seiner Politik zwar an (S. 304):
Durch die anständigen heitern Schulwohnungen in den neuen Häusern wurde auch das Leben der Lehrer verbessert. Bei der eingetretenen Erhöhung der Gehalte konnte nun auch dahin gewirkt werden, daß Lehrer ungeeignete Nebenbeschäftigungen, in welchen sie früher ihr Haupteinkommen suchen mußten, aufgaben.
Die Höhe der Lehrergehälter in Rheinhessen gibt er aber nur kantonsweise an (s.u.), vielleicht weil er eine Aufschlüsselung nach einzelnen Gemeinden für zu heikel hielt, obwohl er die Daten dazu besaß (s. Anmerkung auf S. 324).
Darin streuen die Schulen des Kantons Oberingelheim stark im unteren und mittleren Bereich und mit 9.254 fl. (Gulden) weit unter Mainz (18.230 fl.). Als Durchschnittswert pro Schule nennt Hesse 314 Gulden (nach Abzug der Heizungskosten, die dem Lehrer erstattet wurden).
Für die katholischen Lehrer im Jahr 1836 stellte Sebastian Schröder, ehemaliger Leiter der Ingelheimer Berufsschule (1894-1977), folgende Zahlen zusammen (Rep IV 227):
Ort | Lehrer | Gehilfe |
Ober-Ingelheim | 359 fl. 46 kr. | |
Nieder-Ingelheim | 401 fl. 14 kr. | 210 fl. |
Frei-Weinheim | 186 fl. 55 kr. | |
Großwinternheim | 243 fl. 24 kr. |
Zur Umrechnungsfrage: Da der Konsumwarenkorb einer Lehrerfamilie damals und heute (mit Urlaub in der Toscana) immens weit auseinander klaffen, ist eine Kaufkraftberechnung kaum möglich. Die Zahlen dienen also nur zum relativen Vergleich.
Bemerkenswert ist Hesses Einsicht in die Bedrohlichkeit der demografischen Entwicklung, nämlich der sich anbahnenden Bevölkerungsexplosion des 19. Jahrhunderts:
"Bei der in der beunruhigendsten Weise zunehmenden Vermehrungder Bevölkerung, bei der in Folge der neueren Gesetzgebung eingeführten allgemeinen Gewerbsfreiheit, der fortschreitenden Theilbarkeit der Güter, der Leichtigkeit für völlig vermögenslose Leute, sich zu verheirathen und häuslich nieder zu lassen, entsteht für Länder, in welchen dies häufig der Fall ist, eine Gefahr, welche von Jahr zu Jahr zunimmt."
Dass dieses Problem (in Europa) durch die entstehenden Arbeitsplätze der Industrialisierung in der zweiten Jahrhunderthäfte aufgefangen wurde, konnte Hesse natürlich noch nicht wissen. Diese wiederum hat ihren ökologischen Preis, den wir heute allmählich zu ermessen beginnen (Gs 2020).
Gs, erstmals: 15.01.08; Stand: 16.04.21