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Die Gleichschaltung der Turngemeinde 1847 Nieder-Ingelheim


Autor: Hartmut Geißler
nach Cornelia Peters in: Meyer/Klausing, S. 222 ff.


1. Rahmenbedingungen und Quellenlage für Ingelheim

Nach der "Gleichschaltung" der politischen Institutionen bemühten sich die Nationalsozialisten erfolgreich darum, auch alle gesellschaftlich relevanten Kräfte "gleichzuschalten", d.h. ihre Führungspositionen mit Mitgliedern oder Anhängern der NSDAP zu besetzen und ihre Vorstellungen von einer homogenen "Volksgemeinschaft" in der Arbeit der Vereine und Verbände durchzusetzen.

Als ein Beispiel dafür wird im Sammelband von Meyer/Klausing dieser Prozess an der Turngemeinde 1847 Nieder-Ingelheim von Cornelia Peters dargestellt.

Einleitend betont Frau Peters, dass die Quellenlage hinsichtlich der Geschichte der Ingelheimer Sportvereine für die Nazizeit "eher schwierig" sei, denn die Vereine seien bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte der Jahre 1933-1945, z. B. in Festschriften, "äußerst zurückhaltend" gewesen.

Sie vermutet drei mögliche Ursachen dafür: "Ob dies auf mangelnde Aufzeichnungen oder fehlende Unterlagen zurückzuführen ist oder ob man diese Zeit in der Vereinsgeschichte am liebsten ganz ausklammern würde, da man sich wie überall in den Dienst des NS-Staates gestellt hat, bleibt offen."

Diese Feststellung gilt sicherlich auch für die anderen Ingelheimer Vereine, von denen es in der Weimarer Republik eine große Zahl und Vielfalt gegeben hat. Auch im Historischen Verein selbst blieben die Recherchen von Dr. Bänsch über die Vereinsgeschichte in der Nazizeit so ergebnisarm, dass sich seine Darstellung dieser Epoche in der Jubiläumsschrift von 2005 (= BIG 47) auf ganze 21 Zeilen beschränken musste, von denen hier die ersten zitiert werden:

"Die sich nach der Machtübernahme durch die NSDAP sehr schnell abzeichnenden Veränderungen auf allen Gebieten veranlassten den Vereinsvorstand, von weiteren Aktivitäten zunächst Abstand zu nehmen. Die vorgesehene Hauptversammlung mit den dringend erforderlichen Wahlen zur Vervollständigung des Vorstandes fand nicht statt, weitere Vorträge wurden nicht mehr geplant - der Verein verharrte in Wartestellung. Er wurde nicht aufgelöst, entging aber auch der Gleichschaltung.

Der amtierende Vorstand war bemüht, eine gewisse Weiterarbeit aufrecht zu erhalten. So traf man sich weiter zu Sitzungen, wie das Schreiben vom 11.1.1934 zeigt, zahlte Mitgliedsbeiträge an andere Vereine und war bei Führungen aktiv, dann allerdings nicht im Namen des Vereins..."

2. Die Verbandspolitik der Deutschen Turnerschaft seit 1933: Führerprinzip, Wehrhaftigkeit, Antimarxismus, Arierparagraph

Frau Peters zitiert (s. 223) aus den Beschlüssen des Hauptausschusses der DT aus dem April 1933:

„Der Hauptausschuss wolle sofort durch den Vorstand eine Umarbeitung der DT-Satzung in dem Sinne vornehmen lassen, dass in ihnen der Grundsatz des Führers und der Führung stark zum Ausdruck kommt und dass im § 2 Wehrhaftigkeit als Ziel turnerischer Arbeit ausdrücklich bezeichnet wird.“

„Mitglieder der Deutschen Turnerschaft, welche bisher einer marxistischen Partei angehört haben, können nur dann Turner bleiben, wenn sie eine schriftliche Erklärung darüber abgeben, dass sie den marxistischen Glauben an die Internationale und an den Klassenkampf nicht teilen, und wenn ihre Persönlichkeit die Annahme rechtfertigt, dass sie auch innerlich für die nationale Sache gewonnen werden können.

Der Hauptausschuss bekennt sich einstimmig zum arischen Grundsatz. Der Hauptausschuss beschließt, vorbehaltlich der Genehmigung durch den nächsten Deutschen Turntag, den Arierparagraphen in die Satzung der Deutschen Turnerschaft aufzunehmen."

Wie in der NSDAP und der Reichspolitik sollte auch in den Vereinen das "Führerprinzip" eingeführt werden, und speziell die Arbeit der Turnvereine sollte vom Gedanken der "Wehrhaftigkeit" durchdrungen sein, d.h. sie sollten vormilitärische Ausbildung betreiben.

Und wie im Öffentlichen Dienst sollten durch geänderte Satzungen SPD- und KPD-Mitglieder ("marxistische Partei") sowie Juden ("arischer Grundsatz") ausgeschlossen werden (können), indem die Vereine den sog. "Arierparagraphen" in ihre Satzung aufzunehmen hatten, durch den eine Mitgliedschaft von Personen jüdischer Abstammung ausgeschlossen wurde. Man muss wohl davon ausgehen, dass alle Ingelheimer Vereine solche diskriminierenden Bestimmungen in ihre Satzungen aufgenommen haben, aufgrund deren z. B. mehrere langjährige jüdische Vereinsmitglieder der TG 1847 Nieder-Ingelheim 1933 aus dem Verein ausgeschlossen wurden (s. Meyer/Mentgen, S. 294 ff.).

Für die Durchführung dieser Beschlüsse auf der Ebene der Ortsvereine sorgten nun Beschlüsse und Anordnungen der "Führer" des "Gaues Rheinhessen" und des Bezirkes Bingen. Sie veranlassten demgemäß auch die Auflösung der Arbeitersportvereine, deren Mitglieder nach Ausstellung eines "Leumundszeugnisses" in andere Sportvereine aufgenommen werden konnten.

Im weiteren Verlauf wurden die Sportverbände in die Hitlerjugend aufgenommen und ihre jugendlichen Mitglieder bis zum Alter von 14 Jahren ganz der HJ überlassen, so dass nun Sport und Politik eng verzahnt waren.


3. Die Folgen dieser Veränderungen für die TG 1847 Nieder-Ingelheim

Cornelia Peters bezieht sich bei ihrer Darstellung über den Verlauf der Gleichschaltung auf den Bericht der Ingelheimer Zeitung vom 22. Mai 1933:

"Mit dem Appell „bekundet durch Eure Anwesenheit [ ... ] das Nationalgefühl in unsere Deutsche Turnsache: Gut Heil!“ wurden die Vereinsmitglieder der TG 1847 Nieder-Ingelheim aufgefordert, am 20. Mai 1933 zur Vollversammlung in der Turnhalle zu erscheinen, um nach den Bestimmungen der Kreisleitung die Gleichschaltung und die Umstellung auf das Führerprinzip vornehmen zu können, da die Gleichschaltung bis zum 27. Mai 1933 abgeschlossen sein musste...

Der Bericht über den Abend erfolgte am 22. Mai 1933. Parallel dazu erschienen auch die Darstellungen der Gleichschaltungsabende der TG 1848 mit Fechtschule Ober-Ingelheim und des Turnvereins Frei-Weinheim, die sich außer in den Personen durch nichts unterschieden. Wie dem Bericht über die TG 1847 Nieder-Ingelheim zu entnehmen ist, waren die Vereinsmitglieder zahlreich erschienen und hatten sich in der mit schwarz-weiß-roten und Hakenkreuzfahnen geschmückten und mit Bildern des Reichspräsidenten Hindenburg, Adolf Hitlers und Turnvater Jahns dekorierten Halle in jeder Beziehung im nationalsozialistischen Sinne konform verhalten. Die „so schön verlaufene Gleichschaltung in der festlich geschmückten Turnhalle“ und die Umstellung auf das Führerprinzip gingen anstandslos über die Bühne. Nach dem Rücktritt des Vorstandes wurde derselbe, da im nationalsozialistischen Sinne akzeptabel, wiederernannt und von den Vereinsmitgliedern durch Erheben von den Stühlen bekräftigt. Diese gymnastische Tätigkeit ersetzte fortan das demokratische Prinzip der Wahl, die Mitglieder hatten sich den Anordnungen des Vorstandes unterzuordnen. Der Vorstand blieb bis auf geringe Umbesetzungen bis zum Kriegsende im Amt (zum Teil sogar darüber hinaus).

Neu eingeführt wurde das Amt des Vereinsdietwartes, dem „Turnwart für das Geistesturnen“. Bezeichnenderweise wählte man hierzu einen Lehrer (Josef Grohe), der sein Erziehungswerk nicht nur an den Dietabenden, sondern bereits beim vormittäglichen Unterrichten vollbringen konnte.

Die Pflege der Geselligkeit und der Kameradschaft und die enge Zusammenarbeit mit SS, SA und Stahlhelm wurden betont, was durch den 1. Führer, Fritz Schweikhard, unterstrichen wurde, der erklärte, dass er „die ihm auferlegten Aufgaben im nationalsozialistischen Sinne restlos erfüllen und durchführen werde“ und die Durchsetzung des „Arierparagraphen“, das Entfernen von Marxisten und die Jugendarbeit zum Ziel habe. Es müsse „aufbauende Arbeit geleistet“ werden mit „etwas Geist und gutem Willen, aber nicht mit Gewalt“.

Selbstverständlich endete auch diese Veranstaltung (wie alle späteren und überall) mit dem Absingen des Deutschlandliedes und des Horst-Wessel-Liedes."

Den Begriff des "Dietwarts", der in Österreich bei Sportvereinen für die Jugendbetreuung, für Feste und ähnliches zuständig war/ist, haben die Nazis übernommen und ihm die Funktion der ideologischen Erziehung der Mitglieder übertragen: Volksgemeinschaftssinn, Rassebewusstsein, Antisemitismus u. ä. Grohe setzte sich aber auch für die Erziehung zur "Wehrhaftigkeit" ein, für militärische Tugenden wie Gehorsam, Pünktlichkeit, Kameradschaft und Ordnung. Allerdings wurde seine Tätigkeit mit der Zeit als "lästig empfunden", wie Cornelia Peters feststellt.

Bezüglich des Arierparagraphen wurde im Protokollbuch festgehalten, dass "die vollkommene Arisierung, d.h. der Ausschluss aller Juden, wonach die deutschsprachige Reinheit bis in die 3. Generation verlangt wird, Judenstämmlinge und jüdisch Versippte bis zum 20. Mai durchzuführen und dem Gaubevollmächtigten zu melden [ist]." Denn Mitglied durfte nur sein, "wer deutschen oder artverwandten Blutes ist oder Personen dieser Eigenschaften gleichsteht."

Diese Anweisung wurde unter dem 10. Mai 1933 im Protokollbuch der TG als vollzogen vermerkt. Ausgeschlossen wurden ...

- Alfred Mayer
- Sally Löwensberg
- Josef Löwensberg
- Max Jesselsohn
- Josef Braun
- Sally Strauss
- Karl Mayer
- Bernhard Mayer
- Gustav Nussbaum

Biographische Einzelheiten zu diesen Ingelheimern jüdischer Abstammung siehe bei Meyer/Mentges, S. 85 ff.

Durch die im Jahre 1936 vollzogene Übernahme aller Jugendlichen bis zum 14. Lebensjahr durch die Hitlerjugend wurden den Sportvereinen diese Jahrgänge ganz entzogen.

Nach Kriegsbeginn kam das turnerische Leben sowieso zum Erliegen, weil die meisten Männer zum Militär eingezogen wurden. Die Turnhalle der TG wurde von Militär belegt, später diente sie als Unterkunft für polnische Gefangene. Ab 1942 gab es gar kein Vereinsleben mehr.

Nach dem Krieg durfte die TG nach der Erlaubnis durch die französische Besatzungsmacht am 20. August 1948 neu gegründet werden.

Waren solche Vereine wie die TG nun "Opfer" des Nationalsozialismus oder leisteten sie "freudige Gefolgschaft" und "bedingungslose Einordnung", wie es der Titel des Sammelbandes von Meyer/Klausing unterstellt?

 

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Gs, erstmals: 22.11.11; Stand: 26.03.21