aus: Meyer-Klausing, S. 476 (Anm. 22) und 482 f.
Einleitung
Im Jahr 1995 führte Herbert Heuß im Auftrag des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Rheinland-Pfalz, im Rahmen der historischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma in der Region Mainz und Rheinhessen ein Zeitzeugengespräch mit Katharina Ebender. Die als Katharina Kuhl geborene lngelheimerin hatte in Hessen geheiratet. 1996 verstarb sie im Alter von 65 Jahren. Sie war die Cousine von Eva Reinhard.
Bericht von Katharina Reinhard
Ich bin 1931 geboren und war zwölf Jahre alt, als meine Verwandten nach Auschwitz kamen. Mein Vater war schon im Ersten Weltkrieg Soldat. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde er wieder eingezogen. Als er zu alt war, wurde er während des Krieges aus der Wehrmacht entlassen. Er arbeitete dann im Sägewerk in Ingelheim. Dort waren auch polnische Zwangsarbeiter. Weil sie im Sägewerk nichts zu essen hatten, brachte ihnen mein Vater Brot mit. Als dies einmal entdeckt wurde, ist er zur Abschreckung von allen Leuten im Sägewerk geschlagen worden. Davon war er lange krank.
Am Ende des Krieges holten die Nazis ihn dann zum Volkssturm ab. Sein Arzt sagte, er könne nicht gehen, so krank wie er sei. Er ist mitgegangen, weil er nicht in den Ruf kommen wollte, sich zu drücken. In den letzten Kriegstagen fiel er im Saargebiet. Nach dem Krieg suchten wir alle Friedhöfe in der Gegend ab. Wir wussten nicht einmal, wo er begraben war. Wochenlang haben wir gesucht, und ihn dann im Friedhof bei einem Kloster gefunden.
Die Familie Kuhl, [also] meine Familie, war eine große Familie. Ein Teil stammte aus Oberhessen. Dort gab es viele Orte, in denen Sinti lebten, in Büdingen, in Wächtersbach, in Fulda. In vielen kleinen Orten lebten Sintifamilien. In Büdingen wird der Name Kuhl in der Stadtchronik erwähnt. Ein anderer Teil der Familie lebte in Ingelheim bei Mainz, und zwar in Ober-Ingelheim. Meine Großeltern besaßen dort schon ihr eigenes kleines Häuschen. Das hatte nur eine Stube und eine Küche, aber sie zogen dort dreizehn Kinder groß.
Meine Familie wohnte in Ingelheim in der Ohrenbrücke. Jeder wusste, das ist der Ort, an dem die Sinti leben. Mein Vater hat genauso wie mein Großvater Körbe geflochten, und er war Schleifer. Er hat Scheren und Messer, aber auch alle anderen Geräte und Werkzeuge geschliffen. Mein Großvater hatte noch einen alten Bock, an dem man seitlich treten musste, um den Stein zu bewegen. In Ingelheim wusste jeder, dass wir Sinti sind, oder „Zigeuner“, wie man damals sagte, unsere Nachbarn natürlich auch. In den ersten Jahren des Dritten Reiches gingen wir im Sommer noch auf Reise, aber bald verboten das die Nazis. 1937 kam ich in die Präsident-Mohr-Schule in Ober-Ingelheim. Unser Lehrer Hintze, ein großer Nazi, wusste, dass wir Sinti waren. Auch den anderen Lehrern, viele davon auch Nazis, war dies bekannt. Ich wollte sogar zum Bund Deutscher Mädchen gehen. Aber der BDM nahm uns nicht. Als „Mischlinge“ hatten wir keinen Zutritt.
Als meine Schwester heiraten wollte, erklärte ihr der Beamte auf dem Standesamt, sie dürfe nicht heiraten, weil sie nicht „arisch“ und der Mann, den sie heiraten wollte, „arisch“ sei. Meine Schwester wurde schließlich im Klinikum in Mainz sterilisiert, wie die anderen Sinti. Alle meine Geschwister sollten sterilisiert werden, ich selbst auch, aber wir waren noch zu jung damals.
Ich war zwölf Jahre alt, als meine Verwandten nach Auschwitz kamen, die Verwandten meines Vaters brachten die Nazis aus Ingelheim weg. Als 1938 die Synagogen angezündet wurden, ahnten meine Eltern, was uns erwartete. 1940 wurden dann die ersten Sinti nach Polen verschleppt, auch von Ingelheim aus. Einige konnten fliehen und kamen wieder zurück. Einer hatte es sogar geschafft, nach Ingelheim zurückzukommen. Und hier wurde er verraten. Irgendjemand muss ihn verraten haben! Er wurde von der Gestapo abgeholt und kam nach Dachau. Und dort ist er ermordet worden. Auch zwei Kinder wurden von der Schule abgeholt. Von den Kindern hat keiner mehr etwas gehört oder gesehen, die verschwanden spurlos. Das war 1943 nach dem Auschwitz-Erlass.
Eines Tages kam ein Polizist zu uns, der sagte zu meiner Cousine Eva: „Komm, lass uns abrücken, ihr sollt wegkommen!“ Meine Cousine wollte das nicht glauben. Sie entgegnete, sie wolle bei ihrer Familie bleiben und natürlich nicht mit dem jungen Mann davonlaufen. Der Polizist stammte aus einer alteingesessenen Ingelheimer Familie. Er und meine Cousine kannten sich schon aus der Schule, und er wollte sie heiraten. Am nächsten Tag morgens früh kam die Gestapo. Meine Cousine Eva wurde mitgenommen, auch ihre Mutter Katharina Reinhard, eine Schwester meines Vaters. Der Bruder meines Vaters kam weg. Meine Cousine Eva und ihre Mutter wurden nach Ravensbrück deportiert. Meine Cousine überlebte. So viele kamen im Lager um!
Aus Ingelheim wurden ganze Familien verschleppt und keiner kam zurück, wie zum Beispiel die Familie Spengler: Niemand hat überlebt! Wir, die wir heute noch leben, sind die einzigen, die überhaupt noch etwas wissen von diesen Familien.
Ich konnte in Ingelheim bleiben, weil meine Mutter „arisch“ war. Sie nahm sogar Kinder meiner Onkel auf - ohne Lebensmittelkarten! Einmal versuchte die Polizei, die Kinder abzuholen. Aber meine Mutter wehrte sich und sagte: „Keiner holt mir die Kinder hier weg!“ Und dann kam auch niemand mehr. Es gelang meiner Mutter, die Kinder zunächst durch den Krieg zu bringen. Selbst die Polizei muss das gewusst haben. Meine Mutter galt als „arisch“, mein Vater war Soldat und beim Volkssturm.
Wir haben überleben können; viele von denen, die nach Auschwitz kamen, die können nichts erzählen, die sind dort ermordet worden. Wir müssen das, was unsere Angehörigen erlebt haben, unseren Kindern erzählen, die dürfen das nicht vergessen. Die dürfen das Schicksal ihrer Angehörigen nicht vergessen. Von den andern will ja kaum einer etwas hören. Die sagen oft: „Auschwitz, das muss mal vorbei sein.“ Für uns ist das nie vorbei.