Autor: Hartmut Geißler
nach Schmahl 2000, Bänsch 2016, Nöthen AZ 2017, Bänsch 2019
sowie nach eigenen Recherchen im Stadtarchiv Ingelheim
für einen Auswandererfilm 2008 von Martin Höcker und Frank Scheunemann
und unter Benutzung von Texten für die Ausstellung in der Alten Markthalle 2016 "Alle Welt in Ingelheim" von Dr. Nicole Nieraad-Schalke
1. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts regte sich auch in Ingelheim der Wunsch nach Auswanderung in andere Länder stärker, insbesondere nach den beiden Amerikas, "in geringem Umfang" auch nach Russland (Schmahl 2000, S. 62). Den absolutistischen Regierungen jener Zeit lag aber nach den starken Bevölkerungsverlusten des schlimmen 17. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und Seuchen im Zuge der Merkantilpolitik mehr an einer weiteren "Peuplierung" (Besiedlung) ihres Territoriums als an Bevölkerungsverlusten, besonders wenn es sich um Spezialisten handelte.
Deswegen behinderte auch die Kurpfälzer Regierung in Mannheim solche Auswanderungsbestrebungen eher, als dass sie sie gefördert hätte. Bei einer Bewilligung musste man eine Abzugssteuer in Höhe eines Zehntels des Vermögens entrichten. Leichter bekam man eine Ausreisebewilligung, wenn man nachwies, dass man überschuldet war. Gegen Fälschungen solcher Schuldscheine wurde strafrechtlich vorgegangen, das Vermögen derjenigen, die ohne Bewilligung ausreisten, wurde vom Staat konfisziert (z.B. von Johann Roos und Abraham Schweikart aus Nieder-Ingelheim). Emigrationswerber wurden mit Strafandrohungen verfolgt. Bänsch 2019 stellt eine Reihe von Ausreisen aus Ingelheim aus den Jahren 1742, 1743, 1747, 1748 und 1769 (mit Passagierliste als Abb. 1) dar. In Ober-Ingelheim ging die Zahl der ausreisenden Familien zwischen 1742 und 1758 zwar von 249 auf 233 zurück, aber immer noch eine große Zahl von Familien (S. 241-244).
2.Im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkten sich erneut die Auswanderungen in die USA, nach Brasilien und Argentinien sowie in geringem Maße auch nach Russland. Denn die lange Friedenszeit nach dem Wiener Kongress, eine bessere Ernährung durch landwirtschaftliche Fortschritte, verbunden mit hygienischen Fortschritten (z.B. Impfungen), und die Aufhebung von Heiratshemmnissen durch die französische Gesetzgebung führten zu einer stark wachsenden Bevölkerung. Insbesondere die unteren sozialen Schichtenkonnten nun ungehindert heiraten und hatten oft viele Kinder (Schmahl 2000, S. 51). Das wirkte sich auf die landwirtschaftlichen Erwerbsflächen aus, die im Erbfall durch Realteilung immer kleiner wurden. Die Provinz Rheinhessen gehörte mit 115 Einwohnern pro Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten Gebieten des Deutschen Bundes. Im Kreis Bingen betrug die Einwohnerzahl 90 E/km2 (Schmahl 2000, S. 46-47). Hinzu kam ein stärkerer Anstieg der Getreidepreise in der zweiten Hälfte der 40er-Jahre, unter dem besonders die ärmere Bevölkerung litt.
Schmahl (S. 58) zitiert den Publizisten Johann Jakob Cella, der schon 1780 vor der fortgesetzten Realteilung mit dem Hinweis gewarnt habe, dass „durch unbegränzte Zertrümmerung der Grundstücke die Bevölkerung zu[nehme], weil jeder Laffe, dem kaum der Bart keimt, auf seinen spannenlangen Weinberg oder Acker darauf los heyrathet, sich ein Hüttchen hinbaut und auf Glück Kinder in die Welt setzt.“
Für diese wachsende Bevölkerung schuf erst die nach der Jahrhundertmitte in Gang kommende Industrialisierung genügend Arbeitsplätze im Lande selbst.
Die hessische Regierung regelte schon ziemlich früh die Bedingungen einer legalen Auswanderung, und zwar mit dem Auswanderungsgesetz vom 30. Mai 1821.
Schmahl fasst zusammen (S. 70):
"Das weitaus häufigste Ziel der rheinhessischen Auswanderer im 19. Jahrhundert waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Im Zeitraum 1832-1870 wählten vier von fünf Emigranten dieses Land. Dennoch bot sich ihnen zeitweise eine Reihe von Optionen, insbesondere in der Mitte der 1840er sowie in den späten 1850er Jahren, als andere Staaten systematisch Menschen aus Rheinhessen anwarben. Vor allem in den Jahren nach 1855, als die wirtschaftliche Situation in Nordamerika schlecht war, nahmen Auswanderer diese Angebote an. Im untersuchten Zeitraum (1832-1870) war vor allem Brasilien ein beliebtes Reiseziel. Dort (und in geringerem Maß in Argentinien) ließ sich rund ein Zehntel der Auswanderer nieder. Auf ost- bzw. südosteuropäische Regionen (Polen, Rußland und Ungarn ) entfiel allenfalls ein Anteil von acht Prozent, andere Gebiete wurden – allenfalls mit Ausnahme Algeriens – kaum frequentiert."
Allerdings mussten mehrere Faktoren zusammentreffen, um zu Auswanderungen zu veranlassen, denn zu dem Bevölkerungs- und Armutsdruck im Inneren kamen oft Anwerbeaktionen der Aufnahmeländer, die zu stark schwankenden Zahlen führten.
Die Auswanderung aus Rheinhessen setzte nicht schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein, etwa in dem durch den Vulkanausbruch verursachten Hungerjahr 1817, sondern erst in den 1820er Jahren mit bäuerlichen Familien aus dem Raum Alzey, auch schon nach Brasilien; siehe Schmahl Kapitel: "Umfang der Aus- und Binnenwanderung im 19. Jahrhundert" (S. 63ff.).
Besonders Landarbeiter, Handwerker und Soldaten wurden von Werbern angeworben. In Nieder-Ingelheim betätigte sich der damalige Wirt der Alten Post, Ferdinand Fölix, als Anwerbungsagent (Bänsch 2019, S. 244).
Wer nach Brasilien auswanderte, der wurde in den 1820er Jahren in den Süden des Landes, nach Rio Grande do Sul, gebracht, aber in den 1840er Jahren insbesondere zum Bau von Petrópolis angeworben, einer Sommerresidenz von Dom Pedro II. (Kaiser in Brasilien 1831-1889) und seiner Frau Teresa Maria Cristina von Neapel-Sizilien, im gemäßigten Hügelklima nordöstlich von Rio de Janeiro.
Verantwortlich für das „brasilianische Versailles“ im Südosten Brasiliens war der gebürtige Mainzer Julius Friedrich Koeler (1804-1847). Koeler war zunächst preußischer Soldat und wurde 1828 als Offizier für die brasilianische Armee angeworben, wo er 1842 in den Rang eines Majors aufstieg. Als 1837 ein französisches Schiff auf dem Weg nach Australien in Rio de Janeiro Halt machte und die meisten Passagiere, vor allem deutsche Bauern, genug von der anstrengenden Überfahrt hatten, entschieden sie, in Brasilien zu bleiben und beim Aufbau von Petrópolis zu helfen. Trotz Krankheiten und harter Arbeit erging es den Neusiedlern dort gut, denn das Klima im bergigen Petrópolis war für Mitteleuropäer angenehmer zu ertragen als beispielsweise das heiße, trockene Klima Rio de Janeiros. Daher schickten sie zufriedene Briefe nachhause. Gleichzeitig entschied Koeler, aktiv deutsche Handwerker zum Bau von Petrópolis anzuwerben.(Nieraad-Schalke 2016)
Zur Überfahrt der deutschen Auswanderer schloss die brasilianische Provinzregierung einen Vertrag mit dem französischen Handelshaus Carl Delrue & Comp. ab, mit Sitz in Dünkirchen, in dem diese sich verpflichtete, 600 Familien nach Brasilien zu transportieren, und zwar mit finanzieller Unterstützung der Provinzregierung (Nöthen AZ 2017). Man muss also annehmen, dass auch die Ingelheimer Auswanderer auf diesem für sie kostengünstigen Wege nach Petrópolis gelangt sind, mit Segelschiffen. Die Dauer der Überfahrt, die sicher je nach den Windmöglichkeiten schwankte, gibt Nöthen mit 46 Tagen an.
Die Stadtteile von Petropolis erhielten die Namen der Herkunftsorte und -regionen der deutschen Einwanderer (siehe unten im Plan von 1846, von links nach rechts und von oben nach unten):
Bingen, Ingelheim, Mosel, Nassau, Westphalen;
Simmern, Mittelrhein, Nieder-Rhein, Nieder-Pfalz;
Castellania (= Kastellaun), Ober-Pfalz.
Der Stadtteilname "Ingelheim" existiert bis heute.
Die in Ingelheim vorhandenen Unterlagen sind unvollständig, sodass keine genauen Angaben über die Anzahl der nach Brasilien Ausgewanderten gemacht werden können. Nach einer brasilianischen Zusammenstellung aus dem Jahr 2003 stammten elf der vierzig [Einwanderer-] Familien in Petrópolis aus Ingelheim. (Bänsch 2019, S. 248)
Nach Brasilien insgesamt wanderten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa 2200 Menschen aus, und zwar aus dem Hunsrück und aus Rheinhessen. (Nöthen AZ 2017).
Im Zentrum von Petrópolis steht ein hoher Obelisk, auf dessen Basis Platten mit den Namen der Einwanderer angebracht sind (siehe unten). Man findet darunter eine Reihe von Namen, die bis heute in Ingelheim gut bekannt sind, z. B. Weitzel und Schweickardt, aber auch Faulhaber und Stumpf. Nachfahren von Verwandten dieser Auswandererfamilien leben bis heute in Großwinternheim bzw. Ingelheim.
Zwischen ihnen und Nachfahren der Auswanderer organisierten die Filmemacher Höcker und Scheunemann im Jahr 2008 ein Treffen in Brasilien, das für den Reportagefilm verwendet wurde.
Links der Gedächtnis-Obelisk und unten drei Tafeln mit den Namen deutscher Einwanderer. Fotos: privat
Die Namen aller ausfindig zu machenden Ingelheimer Auswanderer nach Petrópolis/Brasilien aus den 40er Jahren - offenbar zumeist ganze Familien - hat Nicole Nieraad-Schalke 2016 hier zusammengestellt.
Die Einwanderer erhielten 75 Hektar Land, meist Urwald, finanzielle Zuschüsse während des ersten und in der ersten Hälfte des zweiten Jahres sowie Vieh (einen Zugochsen oder ein Pferd, zwei Milchkühe, vier schafe, zwei Ziegen, zwei Schweine) und Saatgut... Weiterhin wurden sie für zehn Jahre von den Steuern befreit... (Bänsch 2019, S. 245)
Aber nicht immer wurden die Versprechen auch erfüllt. Helmut Schmahl bemerkt:
Trotz der Unterbindungsversuche (der Landesregierung) verstanden es Delrues Agenten, zahlreiche Menschen dazu zu bewegen, ihren Besitz zu verkaufen und heimlich nach Dünkirchen zu reisen. Nur ein Teil wurde von dort nach Brasilien geschafft, die anderen blieben in der Hafenstadt zurück, da auf den Schiffen nicht genügend Platz war. Nach einigen Monaten wurde der Rest teilweise von der französischen Regierung, an die die Migranten sich in ihrer Not gewandt hatten, in Algerien angesiedelt. Den Menschen, die von Delrue nach Brasilien eingeschifft wurden, ging es zunächst nicht besser als den in Dünkirchen Zurückgebliebenen. Die Regierung hatte zwischenzeitlich ihre Straßenbaupläne aufgegeben und kümmerte sich zunächst nicht um die Einwanderer. Auf Bitten deutscher Kaufleute und des preußischen Gesandten in Rio de Janeiro schickte Kaiser Pedro II. die in der Hafenstadt verbliebenen Deutschen auf sein Landgut Corrego Secco, das zu seinem Sommersitz ausgebaut werden sollte. (Schmahl S. 72/73)
Im Großherzogtum Hessen war die Auswanderung durch ein Gesetz vom 30. Mai 1821 geregelt. Voraussetzung, die Genehmigung zur Auswanderung zu erhalten, war ein Nachweis der Schuldenfreiheit und für Männer der bereits erfolgten Ableistung des Wehrdienstes. Es war aber möglich, dass sich Wehrpflichtige durch Stellung eines Ersatzmannes 'freikauften'. Wer sich aber durch Flucht und illegale Auswanderung der Wehrpflicht zu entziehen suchte, wurde hart bestraft, wenn er gefasst wurde. In einem weiteren Gesetz vom 27. Juni 1833 wurden die Auswanderungsbestimmungen familienfreundlicher gefasst. Mit einer Reihe von Erlassen versuchte die Großherzogliche Regierung in der Folgezeit die Auswanderung zu steuern und Verbote gegen Werber zu erteilen, insbesondere gegen solche, die Auswanderer unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Brasilien lockten, um sie dort als Soldaten in den brasilianischen Militärdienst zu vermitteln. Schließlich erteilte die Großherzoglliche Regierungs-Commission ein Verbot der unbefugten Werbung zur Auswanderung nach Amerika. (Bänsch 2019, S. 245/247)
Mitte des 19. Jhs. nahmen die Auswanderungen nach Brasilien ab. Zur gleichen Zeit zog es viele Menschen nach den USA, wo es an Arbeitskräften mangelte. Wirtschaftskrisen führten seit der Mitte des 19. Jhs. zu einer Zunahme der Auswanderungswilligen. In den USA erhofften sich viele Menschen eine bessere Zukunft, auch wenn sie nur geringe Kenntnisse von den Lebensumständen dort hatten.
Agent für die Überfahrt nach Nord-Amerika war David Oppenheimer in Ober-Ingelheim. In den Unterlagen des Ingelheimer Stadtarchivs sind für die Jahre 1853 bis 1907 61 Auswanderungen nach Nordamerika belegt. Aus Großwinternheim werden für 1854 bis 1886 41 Auswanderungen nach Nord-Amerika angegeben. Für Nieder-Ingelheim liegen solche Listen leider nicht vor.
Bevorzugtes Ziel der deutschen Auswanderer war der Mittlere Westen der USA. Die Bundesstaaten Ohio, Illinois, Wisconsin, Michigan und Iowa waren besonders beliebt. Genaue Angaben, wohin die Ingelheimer Auswanderer zogen, liegen allerdings nicht vor. Die Auswandererlisten aus Ober-Ingelheim und Großwinternheim machen außer dem Zielland keine weiteren Angaben, sodass es nicht möglich ist, genauere Hinweise auf die Zielgebiete in den USA zu geben (Bänsch 2019, S. 248/249).
Auch im 20. Jahrhundert war Petrópolis Ziel deutschsprachiger Emigranten: Stefan Zweig suchte mit seiner Frau hier Zuflucht vor den Nationalsozialisten. Heute befindet sich in dem Haus, in dem sich beide 1942 das Leben nahmen, ein Museum, das an die beiden erinnert.
Gs, erstmals: 02.01.20; Stand: 16.04.21